Antonius Soest ist Schulleiter mit Leib und Seele. Bevor er 2015 in Rente geht, will der Chef der Gebrüder-Humboldt-Schule in Wedel einen Vorstoß in Sachen Inklusion unternehmen. Der hat es in sich.
Wedel. Antonius Soest und die Gebrüder-Humboldt-Schule: Das gehört zusammen. Und doch müssen sich Schüler, Lehrer und vor allem Soest selbst an den Gedanken gewöhnen, dass der Rektor und die Wedeler Gemeinschaftsschule bald ohne einander auskommen müssen. Soest geht in Rente. Der Hamburger verabschiedet sich Anfang des kommenden Jahres von der Lehreinrichtung, die er als Chef in den vergangenen 15 Jahren maßgeblich prägte. Abgeschlossen hat er mit seiner Arbeit aber nicht. Ganz im Gegenteil. Es gibt da eine Sache, die ihm am Herzen liegt. So sehr, dass er auf seine letzten Tage im Amt noch einmal den Kampf annimmt.
Soest will dem Thema Inklusion, das er bezogen auf die Schullandschaft in Schleswig-Holstein sehr kritisch betrachtet, irgendwie noch eine positive Wendung geben. Dafür traut er sich etwas. Er greift nicht nur in aller Deutlichkeit seinen Arbeitgeber an, der ihm aus seiner Sicht nicht die Mittel zur Verfügung stellt, die er für eine gelungene Inklusion an seiner Schule bräuchte. Sondern Soest hat auch einen für die Bildungslandschaft radikalen Ansatz. Er hat ein Konzept, wie das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung funktionieren kann, sodass die Lehrer trotz fehlender finanzieller Mittel für weitere Pädagogen jedem Schüler gerecht werden können. Der Wedeler Schulleiter fordert die Verkürzung der Unterrichtszeit.
„Nur so können wir die Zeit gewinnen, die wir von der Regierung nicht bekommen, weil der Staat das Geld für zusätzliche Lehrer nicht hat“, sagt Soest. Seine Idee erfordert Solidarität. Denn alle sollen ein wenig abgeben für das aus seiner Sicht so gute und sinnvolle Ziel der Inklusion. Soest macht eine Rechnung auf. Wenn er an seiner Gemeinschaftsschule fünf Minuten pro Stunde streicht, also die Schüler anstatt 45 dann 40 Minuten Unterricht in Form von Doppelstunden bekämen, hätte Soest 150 Stunden gewonnen. Zeit, die in die Inklusionsarbeit fließen soll. Denn die wird laut dem Schulleiter dringend gebraucht.
Die beschlossene Auflösung der ehemaligen Sonderschulen in Schleswig-Holstein und das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne erhöhtem Förderbedarf an Regelschulen stellt die Lehreinrichtungen vor große Herausforderungen. Mit Beginn des Schuljahres musste die Gebrüder-Humboldt-Schule erstmals drei statt wie sonst eine Integrations-Klasse einrichten. Die Zahl der förderbedürftigen Kinder im neuen fünften Jahrgang war so groß. Auch der anderen Wedeler Gemeinschaftsschule ging es so. Diese „I-Klassen“ sind kleiner und werden aufgrund der Kinder mit Förderbedarf stundenweise doppelt besetzt, sprich der Lehrer bekommt Hilfe durch einen Sozialpädagogen. Allerdings reichen diese zusätzlichen Stundenkontingente laut Soest bei Weitem nicht aus.
„Zwei Drittel der Zeit gibt es keine Doppelbesetzung“, sagt der Wedeler Schulleiter. Hinzukommen krankheitsbedingte Ausfälle und die fehlende Infrastruktur. Was ist mit den Kinder mit Behinderung in den Pausen und beim Mittagessen? Wie verhindert man, dass sie vereinsamen? Was ist, wenn die Konzentration am Nachmittag nachlässt, ein Gruppenraum fehlt und ein Lehrer mit der Klasse allein dasteht? Was ist mit den Klassen, in denen erst nach der Einschulung festgestellt wird, dass Kinder doch förderbedürftiger sind, als vorher bekannt und diagnostiziert? Für Soest gibt es noch viele ungeklärte Fragen.
„Wir müssen Inklusion so ernst nehmen, wie sie es verdient hat. Doch so, wie es jetzt angelegt ist, wird es nicht gelingen“, warnt er. An seiner Schule funktioniere es mit den drei „I-Klassen“ derzeit – aber nur, weil die betroffenen Schüler mitziehen und weil Soest gleich die Notbremse gezogen hat. Er entschloss sich, von Beginn an Unterricht ausfallen zu lassen. 25 Stunden pro Woche strich der Schulleiter über alle Jahrgänge zusammen und schichtete sie um. Dadurch sind zumindest in zwei Drittel der Unterrichtszeit zwei Pädagogen für die neuen Fünftklässler dar. „Das ist nicht viel. Wir brauchen mehr Zeit“, fordert Soest, der für seine Schule und andere im Land nur eine Lösung sieht: weniger Unterricht für alle. „Die Schule wird dadurch nicht schlechter. Im Gegenteil. Ich bin überzeugt davon, dass es ein Gewinn für alle wird.“
Das Problem: Soest läuft die Zeit davon. Mit der Elternvertretung hat er bereits gesprochen. Auch die 65 Kollegen der Einrichtung, an der rund 750 Schüler unterrichtet werden, wissen Bescheid. Am liebsten würde er die Entscheidung über das neue Schulmodell noch vor seinem Ruhestand auf den Weg bringen. Doch Soest hat auch Verständnis für seinen Nachfolger, der letztlich die Idee umsetzen müsste. Er müsste auch von der Idee überzeugt sein. Seit Mittwoch steht fest, wer das Erbe von Soest antritt. Das poltische Gremium entschied sich für Andreas Herwig. Der neue Leiter kehrt damit an seinen ehemaligen Arbeitsplatz zurück. Denn bereits als junger Lehrer unterrichtete er an der Gebrüder-Humboldt-Schule. Zuletzt war er an der Gesamtschule Hagen Eilpe in Nordrhein-Westfalen tätig.
Schulleiter Antonius Soest möchte mit Lehrern, Eltern und Interessierten am Mittwoch, 19. November, über sein Konzept für gelungene Inklusion sprechen. Die Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr in der Mensa der Gebrüder-Humboldt-Schule.