Im Abendblatt-Gespräch erklärt der Geistliche, wie die Seelsorger des Kirchenkreises in Tornesch Angehörigen und Freunden der getöteten Lisa Marie jetzt beistehen und warnt vor Rachegelüsten und Vorverurteilungen.
Tornesch. Am 19. März verschwand Lisa Marie. Ihre Eltern meldeten sie als vermisst. Suchaktionen blieben erfolglos. Fünf Tage später war klar, dass das 18 Jahre alte Mädchen nie wieder nach Hause kommt. Sie wurde getötet. Die Polizei nahm einen 16 Jahre alten Jungen fest. Er wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft, engagierte sich wie Lisa Marie in der örtlichen Feuerwehr und war mit ihr befreundet. Er soll sie erwürgt haben. Die Trauer ist groß. Pastoren betreuen die Betroffenen. Im Abendblatt-Gespräch erklärt Propst Thomas Drope, wie die Seelsorger des Kirchenkreises Angehörigen und Freunden jetzt beistehen und warnt vor Rachegelüsten und Vorverurteilungen.
Hamburger Abendblatt: Ein 18 Jahre altes Mädchen ist tot, wahrscheinlich erwürgt von einem 16 Jahre alten Freund. Zwei Familien sind zerstört. Angehörige und Freunde stehen unter Schock. Wie kann das Leben nach so einer Tragödie weitergehen?
Thomas Drope: Opfer und Angehörige werden das niemals vergessen. Ihr Leben wird nicht wieder so wie früher. Der Schmerz wird immer da sein. Jeder reagiert in seinem Schmerz anders. Wichtig ist, dass sie irgendwo jemanden finden, der sie versteht, der die richtigen Worte findet. Einfach so lebt man nicht weiter.
Wie und wo können die Betroffenen diese Hilfe finden?
Drope: Das kann ein Pastor der Kirchengemeinde sein, aber auch ein Freund oder Nachbar. Selbstverständlich bieten wir als Kirchenkreis unsere Hilfe an. Wir kümmern uns um die betroffenen Mitglieder der Jugendfeuerwehren. Ich weiß auch, dass in den Konfirmandengruppen über den Tod des Mädchens gesprochen wurde. Es herrscht eine große Verunsicherung. Pastor Winfried Meininghaus aus Tornesch steht der Familie des Opfers bei. Er bereitet die Trauerfeier in der kommenden Woche mit ihnen vor. Zudem ist Britta Stender vor Ort. Die Elmshorner Pastorin ist unsere Notfallseelsorgerin. Sie stand der Familie schon in den ungewissen Tagen der Suche nach ihrer Tochter bei und war an dem Abend bei ihnen, als die Leiche auf dem Feld gefunden wurde. Britta Stender hat viel Erfahrung in der Seelsorge. Sie ist Tag und Nacht erreichbar und betreute auch zum Beispiel die Opfer des völlig zerstörten Hauses in Itzehoe.
Wie kann diese Hilfe aussehen?
Drope: Große Worte sind es nicht. Einfach da sein, die Not mit aushalten, die Klagen anhören. Menschen sind sehr unterschiedlich, manche möchten darüber sprechen, andere schweigen. Das Signal der Seelsorger muss sein: Wir sind da – für alle, die Gespräche wünschen, und für alle, die jemanden an ihrer Seite brauchen. Das Erstaunliche an uns Menschen ist, dass wir wissen, was für uns gut ist. Wir tragen es in uns. Das Problem ist, dass Opfer und Angehörige schnell vergessen werden. Dann dreht sich alles nur noch um den Täter. Ich stimme dem Weißen Ring zu, dass wir daran arbeiten müssen, auch langfristig den Angehörigen von Opfern beizustehen.
Wir reden jetzt immer von den Angehörigen des Opfers, aber wurde nicht noch eine zweite Familie zerstört?
Drope: Ja, ich habe in den vergangenen Tagen auch viel an die Eltern des verhafteten Jungen gedacht und wie es ihnen gehen mag. Sie befinden sich genauso in einer Notsituation. Auch ihnen müssen wir beistehen, auch sie werden von uns betreut. Allerdings von einem anderen Pastor als die Familie des Opfers. Die Aufgabe von Seelsorgern ist es nicht zu urteilen. Das steht uns nicht zu. Es zählt nur der Mensch in seiner Not, und die trifft alle gleichermaßen.
Der mutmaßliche Täter sitzt in U-Haft, aber seine Eltern leben ja in Tornesch, einer Kleinstadt, in der man sich noch kennt. Viele wissen, um welches Gebäude es sich bei dem Elternhaus handelt, in dem Lisa Marie nach den derzeitigen Ermittlungen der Polizei wohl auch erwürgt und getötet wurde. Wie sollen sie hier weiterleben? Bereits jetzt wurden Fensterscheiben ihres Hauses eingeworfen.
Drope: Das ist entsetzlich. Ich kann so etwas nicht begreifen. Ich habe mich schon sehr darüber gewundert, dass das Haus in manchen Zeitungen abgebildet wurde. Damit war doch die Hetzjagd eröffnet. Unser System kann doch nur funktionieren, wenn wir uns auf unser Rechtssystem verlassen. Der Junge fällt unters Jugendschutzrecht. Die Richter müssen über das Maß seiner Strafe urteilen. Wenn sich andere Menschen als Richter aufspielen, sollten sie sich erst mal an ihre eigenen Verfehlungen erinnern. Selbstjustiz ist einer Zivilisation nicht angemessen.
Am selben Tag, als Lisa Maries Leiche gefunden wurde, wurde auch in Neu Wulmstorf im Kreis Harburg eine Leiche entdeckt. Das Mädchen war erst elf und ihr mutmaßlicher Mörder erst 18 Jahre alt. Im Fall von Lisa Marie wurde sogar ein erst 16-Jähriger verhaftet. Hat unsere Gesellschaft nicht versagt, wenn fast noch Kinder zu Mördern werden?
Drope: Das ist immer leicht gesagt. Aber ich wehre mich dagegen, dass unsere Gesellschaft schlecht ist. Wir sind nicht schlechter als die Generation vor uns und die nach uns. Ich habe gerade im Fall von Lisa Marie sehr viel Anteilnahme der Menschen erlebt. Es ist doch erstaunlich, wie viele mit der Familie leiden, ihnen ihr Beileid bekunden. Wir werden nie ausschließen können, dass so etwas passiert. Wir wissen nicht, was in den Menschen vorgeht.
Waren Sie am Dienstagabend bei einer der Gedenkveranstaltungen in Pinneberg und Tornesch?
Drope: Ja, ich war vor der Drostei in Pinneberg. Da wir hörten, dass viele Trauernde erwartet werden, waren wir alarmiert. Nach Pinneberg kamen sechs Seelsorger, also Pastoren mehrerer Kirchengemeinden. Die Stimmung war ruhig. Es herrschte Ratlosigkeit und Entsetzen. In diesem Fall standen die Menschen zusammen, auch wenn sich sonst manche oft vereinsamt fühlen.
Wollen Sie damit sagen, dass auch aus den schlechtesten Dingen doch etwas Gutes wächst?
Drope: Ja, das könnte man so sagen. Es ist gut, dass so viele Menschen gekommen sind und gezeigt haben, dass sie mitleiden.
Aber wie erklären Sie sich dann, dass Menschen auch zu so etwas wie einem Mord an einem jungen Mädchen oder einem Kind fähig sind?
Drope: In jedem von uns schlummert neben dem Guten auch das Böse. Wir haben als Menschen die Freiheit geschenkt bekommen, uns für das eine oder das andere zu entscheiden – mit allen Konsequenzen. Gott betrauert mit uns die Verlorenen.