Der Pensionierte Lehrer Hans-Werner Berens führt Barmstedter Gymnasiasten über das Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos in Kaltenkirchen. Gymnasium gehört dem Trägerverein der Gedenkstätte an.
Kaltenkirchen/Barmstedt. Bis zur Straße sind es nur ein paar Meter. Im Winter, wenn das Laub fehlt, sind die Autos gut zu sehen. Manchmal kommt ein Radfahrer vorbei. Rechts geht es über Bad Bramstedt nach Kiel, links über Quickborn nach Hamburg. An den Ecken des Lagers stehen Wachtürme mit bewaffneten Posten. Doppelte Zaunreihen versperren den Weg in Richtung Straße oder Wald. Im Lager sterben die Menschen – an Entkräftung, Hunger und Krankheiten. Manche Häftlinge überleben die Kälte nicht. Der Winter 44/45 ist streng. Durch die Bäume und den Zaun ist der Blick ins Lager frei, in die Freiheit ebenfalls...
Ein Konzentrationslager in der Nachbarschaft, von dem heute kaum etwas übrig geblieben ist außer dem Fundament des Latrinenhauses, einem Zaunpfahl und einigen Dokumenten. Hans-Werner Berens führt die Schüler des 13. Jahrgangs des Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gymnasiums Barmstedt über die Wege des einstigen KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen. Er muss laut sprechen. Auf der Bundesstraße 4, der einstigen Reichsstraße 4, fahren die Autos vorbei wie im Winter 44/45. Damals schaffte die SS 500 Häftlinge nach Kaltenkirchen und setzte sie als Zwangsarbeiter ein, um die Landebahn des Militärflughafens für Hitlers „Wunderwaffen“ zu verlängern.
Die Mienen der Schüler sind ernst
„Man hätte sie erhalten können“, sagt der pensionierte Lehrer Berens über die Lagerbaracken, die verschwunden sind. Weiße Zaunlatten deuten die Umrisse an. Nach dem Krieg lebten Flüchtlinge in den Gebäuden, eines wurde in den 50er-Jahren als Fernfahrerkneipe genutzt. „Sagt ihnen der Begriff Latrine etwas?“, fragt Berens die Schüler, als sie vor den freigelegten Resten stehen. Er übersetzt das Wort mit Toilettenhaus: eine Baracke mit Brett, auf dem die Häftlinge nebeneinander saßen.
Berens erzählt nüchtern. Die jungen Erwachsenen, die er übers Gelände führt, haben sich ausführlich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Er muss das Grauen nicht ausschmücken; das Verbrechen war vor den Toren Kaltenkirchens ebenso präsent wie an Tausenden anderen Orten im Nazi-Reich. Die Mienen sind ernst, als Berens von den ersten Transporten der Häftlinge vom KZ Neuengamme nach Kaltenkirchen berichtet.
Am Anfang seiner Erklärung hatten manche Schüler noch gelächelt, als sie erfuhren, dass die AKN für die Transporte verantwortlich war. Viele von ihnen fahren täglich mit der veralteten, aber liebenswerten Nebenbahn, die im Volksnamen den knuffigen Spitznamen „Kuddl“ trägt. 1944 transportierte die AKN die Häftlinge. Zwei Tage dauerte die Fahrt von Neuengamme in Richtung Lager zur Alvesloher Bahnstation mit dem Namen Hoffnung. Wasser und Essen gab es nicht. Als der Zug ankam, waren zehn Prozent der Männer tot.
Berens steht mit den Schülern vor den Steinen mit den Namen der Gefangenen, die das Lager nicht überlebt haben. „Welche Namen fehlen?“, fragt er. „Jüdische Namen“, antwortet ein Mädchen. Nach Kaltenkirchen wurden Häftlinge aus ganz Europa deportiert, aber keine Juden. Steine mit russischen Namen fehlen. Die SS hatte sich nicht die Mühe gemacht, Tote aus der Sowjetunion mit Namen zu dokumentieren. „Sie galten als Arbeitssklaven und Untermenschen“, sagt Berens. Die jungen Menschen schweigen.
Die Schüler gehen unbefangener mit der Vergangenheit um
„Wer sehen wollte, konnte sehen“, sagt Berens über das Lager, über das die Kaltenkirchener nach dem Krieg jahrzehntelang geschwiegen haben. Gemeinsam mit den Schülern geht er zurück ins Dokumentenhaus der Gedenkstätte. Dort stehen Arbeitsgruppen auf dem Programm, die sich mit Details der Lagergeschichte beschäftigen. Die Themen lauten: Lagerleitung, Häftlingsfunktionäre und der Umgang der Anwohner mit dem Lager in der Nachkriegszeit.
Sechs Stunden pro Woche arbeitet Berens seit seiner Pensionierung in der Gedenkstätte, das Land zahlt das Honorar. Früher ist er auch mit seinen eigenen Schülern hierher gefahren. „Wie weit die Betroffenheit geht und wie weit die Schüler sich einfühlen können, weiß man vorher nie“, hat er festgestellt. Berens will informieren. „Ich bin unsicher, ob wir auch bewusst Betroffenheit erzeugen sollten.“ Als junger Mann habe er sich viel mit dem Nationalsozialismus beschäftigt und bei der Lektüre mancher Bücher geweint. Gerade für jüngere Schüler gelte die Regel, sie nicht zu überfordern, sagt der ehemalige Lehrer.
Das Barmstedter Gymnasium gehört dem Trägerverein der KZ-Gedenkstätte an, die Zusammenarbeit ist eng. Heute gehen die Schüler unbefangener als früher mit der Vergangenheit um, hat Lehrerin Karen Chytry festgestellt. „Es gibt kaum noch familiäre Bezüge.“ Leid und Verbrechen liegen so lange zurück, dass Großeltern oder andere Verwandte nicht mehr in die Kategorien Täter oder Opfer fallen könnten. „Die Distanz ist größer“, sagt die Geschichtslehrerin. „Das erleichtert den Umgang, es wird direkter gefragt.“
„Ich weiß, dass mein Urgroßvater im Krieg gefallen ist“, sagt Schüler Jonas Portmann. Nazi-Regime und Krieg gehören für Menschen seiner Generation zur Geschichte, in der kaum noch direkte Linien zu seinem Leben zu finden sind. „Die Distanz ist groß“, sagt Jonas. In der Gedenkstätte zu arbeiten statt im Klassenraum hält er für wichtig. Hier könne er sich leichter vorstellen, was geschehen sei, sagt Jonas und fügt hinzu: „Das Geschehen darf nicht in Vergessenheit geraten.“