Norderstedt. Wo früher Stars wie Heung-min Son oder Jonathan Tah in Norderstedt lebten, ziehen nun 14 Jugendliche mit schwerem Lebensweg ein
Früher wohnten hier junge HSV-Talente und träumten von einer Karriere als Profifußballer. Nun werden in den Zimmern Jugendliche im Alter von 14 bis 17 untergebracht, die Schlimmes erlebt haben – und deren Zukunft nicht noch weiter negativ geprägt werden soll. Die Rede ist vom ehemaligen HSV-Internat in Norderstedt.
Das Gebäude wurde in ein Jugendschutzhaus umfunktioniert, mit 14 Plätzen. Es dient nun als Unterbringungsort bei Inobhutnahmen, soll also jungen Menschen Obdach und pädagogische Betreuung bieten, die das Jugendamt zeitweise aus ihren Familien herauslösen muss. Außerdem werden auch unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge in dem neuen Jugendschutzhaus aufgenommen.
HSV-Internat: 14 Jugendliche in Not ziehen ein
„Wir werden am Donnerstag um 8 Uhr starten. Das Jugendschutzhaus wird 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche eine Anlaufstelle sein. Personal ist immer vor Ort“, sagt Eckbert Jänisch. Er ist der Geschäftsführer der Gemeinnützige Perspektive GmbH, die Trägerin des Hauses ist. Die Gesellschaft mit Sitz in Elmshorn hat einige Erfahrung mit Inobhutnahmen, ist seit 2006 in dem Sektor aktiv und betreibt bisher einige Einrichtungen im Kreis Pinneberg.
Jörg Horkenbach von der Gesellschaft wird die Norderstedter Einrichtung leiten. Ihm zur Seite stehen zehn pädagogische Fachkräfte, also Erzieher und Sozialarbeiter. Außerdem gehören ein Hausmeister, eine Hauswirtschaftlerin und eine Reinigungskraft zum Team. „Ich werde an fünf Tagen die Woche vor Ort sein. Mindestens“, sagt Horkenbach. Das Haus werde „rund um die Uhr mit zwei Fachkräften“ besetzt sein.
Schon im vergangenen Oktober hatte die Stadt Norderstedt die im Jahr 1998 erbaute Immobilie angemietet, die der HSV bis 2015 als Internat für hoffnungsvolle Sport-Talente nutzte. Der Grund ist, dass die Zahl der Inobhutnahmen immer weiter steigt. In Norderstedt waren es im Jahr 2020 noch 44 Kinder und Jugendliche, 2021 bereits 48 Fälle und 2022 stieg die Zahl auf 57. In vergangenen Jahr gab es in Norderstedt „etwa 70“ Inobhutnahmen, wie Jugendamtsleiterin Karina Jungsthövel sagt.
HSV-Internat als Asyl für Inobhutnahmen
Die Stadt Norderstedt will das ehemalige Internat aber nicht allein nutzen, von Anfang an wurde die Kooperation mit anderen Kreisen avisiert. Das ist nun gelungen. Mit im Boot sind die Kreise Segeberg, Stormarn, Pinneberg und Herzogtum Lauenburg. Gemeinsam mit der Stadt Norderstedt, die als Mieterin auftritt, finanzieren sie den Grundbetrieb. Und zwar werden immer zehn Plätze finanziert, zwei von Norderstedt und den Kreisen Segeberg, Stormarn und Pinneberg. Der Kreis Herzogtum Lauenburg finanziert in diesem Grundbetrieb einen Platz.
Inobhutnahmen sind dann notwendig, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und das Jugendamt sich gezwungen sieht, schnell zu handeln. Zu den Gründen für Inobhutnahmen sagt Eckbert Jänisch: „Psychische Erkrankungen der Eltern sind sehr häufig, Drogen- und Alkoholmissbrauch auch.“ Kinder, die in solche Einrichtungen einziehen, haben oft „Vernachlässigung, körperlichen und sexuellen Missbrauch erlebt“, so Jänisch weiter.
Auch junge Geflüchtete werden in dem ehemaligen Internat wohnen
Außerdem werden auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in solchen Schutzhäusern betreut, die von Gesetzes wegen behandelt werden wie Kinder, bei denen eine Inobhutnahme greift. „In unseren Einrichtungen im Kreis Pinneberg haben wir zum Beispiel Jugendliche aus Ägypten, Syrien und Afghanistan“, sagt Sebastian Blum von der Gesellschaft.
Jugendschutzhäuser sind aber nur für einen kurzen Zeitraum gedacht. „Nach unseren Erfahrungswerten sind das etwa drei Wochen“, sagt Sebastian Blum. In dem Zeitraum überlegt das Jugendamt, wie es weitergeht – ob der oder die Jugendliche also zurück in die Familie kann, die dann künftig vom Jugendamt Hilfe bekommt, oder ob er oder sie besser in einer anderen Einrichtung aufgehoben ist, zum Beispiel in einer Wohngruppe.
Fünf Plätze für Mädchen, neun für Jungs – in getrennten Trakten
Dass der ehemalige HSV-Internat für einen sozialen Zweck genutzt wird, ist nicht ganz neu. Zwischen 2015 und Ende 2023 lebten Geflüchtete in den Zimmern des Gebäudes an der Ulzburger Straße. Für den neuen Zweck wurde es nun noch einmal hergerichtet. „Wir haben eine neue Küche eingebaut und gestrichen, außerdem ist das Inventar in den Zimmern neu“, sagt Jörg Horkenbach. Zudem bekam das Haus auch eine neue Brandschutzanlage.
Nun stehen neun Plätze für männliche und fünf Plätze für weibliche Jugendliche zur Verfügung, in getrennten Trakten. Das könne aber, je nach Zulauf, getauscht werden. „Je nach Bedarf können wir auch neun Plätze für Mädchen und fünf für Jungen anbieten“, so Horkenbach. Außerdem gibt es ein speziell eingerichtetes Zimmer für junge Mütter mit Kindern.
In jedem Fall hat jeder Jugendliche ein eigenes Zimmer mit Dusche und sogar einen Balkon. Das ist durchaus ein gewisser Luxus im Vergleich zu anderen Schutzeinrichtungen. Ein weiterer, wesentlicher Pluspunkt: „Der HSV hat netterweise zugesagt, dass wir die Außeneinrichtungen nutzen dürfen, also zum Beispiel den Bolzplatz“, sagt Horkenbach.
HSV-Internat: Wie der Tagesablauf aussehen soll
Wie das Leben in dem Schutzhaus voraussichtlich aussehen wird, skizziert er so: „Es geht darum, dass die Kinder eine geregelte Tagesstruktur haben, also nach Möglichkeit weiter zur Schule gehen.“ Bei Jugendlichen aus Norderstedt wird das einfacher zu lösen als etwa bei solchen aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg. Diese müssten dann vielleicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule, man werde vielleicht vereinbaren, dass sie etwas später kommen können. Oder sie werden erst einmal „Gastschüler“ in Norderstedt.
Im Schutzhaus können die Jugendlichen dann „relaxen und Hausaufgaben machen“, würden natürlich auch pädagogisch und psychologisch betreut. Einen Fernseher und eine Spielkonsole wolle man auch anschaffen. Außerdem ist da ja noch die Küche – und das gemeinsame Kochen am Wochenende immer eine gute Methode, miteinander in Kontakt zu kommen. „Zum Beispiel Jugendliche aus arabischen Ländern finden es toll, wenn sie mal etwas aus ihrer Heimat zubereiten können.“ Unter der Woche versorgt hingegen ein Caterer das Haus.
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Eine weitere Aktivität könnte sich beim Nachbarn HSV bieten. „Die Greenkeeper freuen sich, falls sie mal jemand unterstützen möchte“, sagt Horkenbach. Im Haus selbst indes habe man die HSV-Spuren weitestgehend beseitigt, auch deshalb, damit es nicht zum Streit kommt, falls ein Jugendlicher womöglich Fan eines anderen norddeutschen Fußballclubs ist.
Wie es üblicherweise für Jugendliche nach der Inobhutnahme weitergeht
Und wie geht es weiter für die Jugendlichen, wenn die Wochen im Schutzhaus abgelaufen sind? Dazu sagt Sebastian Blum: „Nach bundesweiten Statistiken gehen zwei Drittel der Kinder zurück in die Familien. Ein Drittel geht in andere Betreuungseinrichtungen.“ Er sagt aber auch: „Nach unserer Erfahrung im Kreis Pinneberg geht nur ein Drittel zurück in die Familien, zwei Drittel dann in Einrichtungen.“
Immerhin gibt es solche Einrichtungen auch in Norderstedt, wie Karina Jungsthöfel sagt. „Wir haben in der Stadt Wohngruppen. Und auch andere Orte kommen infrage, zum Beispiel das SOS-Kinderdorf.“
HSV-Internat: Diese Stars lebten am Ochsenzoll
Den HSV und Norderstedt verbindet das Trainingsgelände am Ochsenzoll schon seit 1928. Damals kaufte der Verein unter der Führung von Präsident Paul Hauenschild das etwa 130.000 Quadratmeter großes Grundstück, um dort zwölf Sportplätze zu bauen. HSV-Mitglieder ließen bis 1931 mit viel Eigenarbeit ihr großes Trainingszentrum entstehen. HSV-Legende Uwe Seeler durfte dem Verein 1959 und 1962 ganze 1400 Quadratmeter Land abkaufen, um dort sein Wohnhaus zu errichten.
Ab 1963 wurde die Anlage kontinuierlich erweitert. Und zwar mit dem Geld von Hauenschild, der am 26. April 1962 starb und dem HSV sein gesamtes Vermögen vererbte, zweckgebunden für die Anlage am Ochsenzoll. So konnten unter anderem neue Umkleidekabinen (1963), eine 1100-Quadratmeter-Sporthalle (1965) und ein Leistungszentrum (1971) finanziert werden. Auch in das 1999 errichtete Jugend-Internat flossen Mittel der Stiftung.
Im Internat trainierten fortan die Nachwuchs-Hoffnungen des HSV. Weltstars wie Heung-min Son oder heutige Nationalspieler wie Jonathan Tah lebten im Internat und in der Stadt. Etliche HSV-Fußballerkarrieren wurden im Internat aber auch beendet, weil sich die jungen Kicker nicht an die strengen Hausregeln hielten oder mangelnde Trainingsdisziplin an den Tag legten und aussortiert wurden. Seit 2004 trainieren die Profis an der Arena in Bahrenfeld, mittlerweile auch die U23. Direkt neben der Arena steht der HSV-Campus.