Norderstedt. Wo früher Kicker-Talente wohnten, sollen jetzt Kinder und Jugendliche in Not ein Asyl auf Zeit finden.
- Die Stadt hat die Immobilie für fünf Jahre vom HSV gemietet.
- Es wird ein Träger gesucht, der die Einrichtung ab Dezember betreibt.
- Zahlen der Inobhutnahmen sind in Norderstedt stark gestiegen.
Das ehemalige Fußballinternat des HSV an der Ulzburger Straße in Norderstedt bekommt eine neue Verwendung: Das Wohngebäude auf der Paul-Hauenschild-Anlage wird zur Unterkunft für Kinder und Jugendliche, die von Jugendämtern aus ihren Familien genommen werden mussten.
Inobhutnahme wird diese Ultima Ratio im Jugendschutz genannt, die immer dann zur Anwendung kommt, wenn die Sicherheit und Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen nach Einschätzung des Jugendamtes nicht mehr gewährleistet sind.
Wie Norderstedts Jugendamts-Leiterin Karina Jungsthöfel im Jugendhilfeausschuss mitteilte, werde das HSV-Internat ab dem 1. Oktober von der Stadt Norderstedt für fünf Jahre vom Hamburger Sportverein angemietet. In einem Interessenbekundungsverfahren suche man derzeit nach einem Träger, der die Einrichtung im Auftrag der Stadt betreiben soll.
Fälle nehmen zu: Bis August waren es in Norderstedt 40 Jugendliche
Laut Jungsthöfel benötige die Stadt Norderstedt dringend Platz, um die Kinder und Jugendlichen in ihrer Obhut adäquat unterzubringen. Die Zahlen der Inobhutnahmen stiegen in Norderstedt in den letzten Jahren stark an. Im Jahr 2020 waren es 44 Kinder und Jugendliche, 2021 bereits 48 Fälle und 2022 stieg die Zahl auf 57. In diesem Jahr waren es bis August schon 40 Inobhutnahmen.
„In diesen Fällen ist eine schnelle Trennung von den Eltern und eine anderweitige Unterbringung der Kinder und Jugendlichen notwendig“, teilte das Jugendamt mit. „Der Bedarf übersteigt aktuell die im näheren Umkreis angebotenen Plätze. Oft müssen Kinder und Jugendliche weit von ihrem Zuhause untergebracht werden und die Platzsuche ist für die Mitarbeitenden im Allgemeinen Szialen Dienst (ASD) sehr zeitintensiv.“
Dramatische Zahlen auch auf Kreisebene
Eine Situation, die nicht nur in Norderstedt, sondern auch im ganzen Kreis Segeberg und bundesweit besteht. Die Menge der akuten Kindeswohlgefährdungen im Kreis Segeberg entwickelte sich ebenso drastisch. Waren in den vergangenen Jahren 38 bis 47 Fälle pro Jahr normal, so verzeichnete das Jugendamt des Kreises allein bis zum Stichtag 30. Juni schon 95 Fälle.
Das HSV-Internat soll den betroffenen Kindern und Jugendlichen ein „sicheres Zuhause auf Zeit“ bieten, das alle Bedarfe erfüllt. Für die Fälle aus Norderstedt würden Fahrtzeiten für Jugendliche, Eltern und Fachkräfte minimiert. Jungsthöfel betont, dass nicht nur ausländische Jugendliche, die ohne Begleitung nach Deutschland einreisen, im Internat wohnen sollen, sondern auch alle anderen Jugendlichen, die in der Region aus ihren Familien herausgenommen wurden.
Jugendliche ab 14 Jahren bekommen Zuhauses auf Zeit
Neun Wohneinheiten mit eigenem Bad des HSV-Internats sollen von Jugendlichen ab 14 Jahren bezogen werden, die in Obhut genommen wurden. Fünf Wohneinheiten sollen für das sogenannte Verselbstständigungswohnen reserviert werden. Das heißt, hier sollen ältere Jugendliche und junge Erwachsene einziehen, die unter Anleitung und Betreuung erlernen, ihr Alltagsleben alleine zu organisieren, die aber nicht mehr rund um die Uhr unter Beobachtung stehen.
Für die Betreuung im Haus wird ein Personalschlüssel von mindestens eins zu 4,6 angegeben, die Aufnahme neuer Fälle soll zu jeder Tag- und Nachtzeit möglich sein – ein Betrieb über 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr. Die Jugendlichen sollen dort grundversorgt werden und in einer pädagogischen Krisenbetreuung Ruhe und Entlastung finden.
Norderstedt reserviert sich zwei Plätze im Ex-HSV-Internat
Zwei der Plätze im Haus will sich die Stadt Norderstedt reservieren. Dafür zahlt sie ein Platzfreihaltegeld. Die übrigen Wohnungen können auch von anderen Jugendämtern belegt werden. Dazu soll gemeinsam mit den Kreisen Segeberg, Stormarn, Pinneberg und Herzogtum-Lauenburg eine „Koordinierungsstelle Inobhutnahme“ aufgebaut werden.
Der gesuchte Träger der Einrichtung müsste das HSV-Internat von der Stadt Norderstedt für 10.000 Euro pro Monat mieten. Dafür könne er auch die Außen- und Sportanlagen des HSV mitnutzen, außerdem die Gemeinschaftsräume und Büros des HSV-Internats und zwei Wohneinheiten für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zum Haus gehören zudem ein Hausmeisterservice und eine Reinigungskraft.
Betrieb soll im Dezember losgehen
Bewerben können sich Träger mit ausreichend Erfahrung und fachlich gut geschultem Personal bis zum 15. Oktober bei der Stadt Norderstedt. Vorgelegt werden muss dafür ein komplettes Betreuungskonzept. Los gehen soll es mit dem Betrieb des Internats am 1. Dezember.
Dass sich im HSV-Internat auf dem Trainings- und Breitensportgelände hoffnungsvolle Kicker-Talente tummeln, ist schon lange Geschichte. Zuletzt hatte die Stadt Norderstedt das Gebäude im Jahr 2020 für die Unterbringung von Flüchtlingen angemietet.
Das Problem der Unterbringung der Jugendlichen ist eines der drängendsten in Jugendhilfe – aber bei Weitem nicht das einzige. „Der gleichzeitige dramatisch zunehmende Mangel an Arbeits- und Fachkräften in allen Bereichen des Sozialen und Bildungswesens reduziert zunehmend Krisenreaktions- und Handlungsmöglichkeiten“, teilt das Jugendamt mit. „Schon jetzt führt dieser Mangel zu einer unübersehbaren Überforderungs-, Versorgungs- und einer umfassenden Qualitätskrise in der Jugendhilfe.“ Die Jugendämter wollen über Stadt- und Kreisgrenzen hinweg ihre Kräfte effizient bündeln, Kooperationen und Kollaborationen in den nächsten Jahren intensivieren und ausbauen.