Norderstedt. Seit 1. Januar müssen Ärzte elektronische Rezepte ausstellen. Trotzdem bekommen viele Patienten noch Papierzettel. Die Ursachen.
Das elektronische Rezept soll Patienten das Leben erleichtern, Abläufe in Praxen und Apotheken vereinfachen und nebenbei noch die Umwelt schonen. Seit dem 1. Januar sind Ärzte verpflichtet, das E-Rezept für verschreibungspflichtige Medikamente auszustellen. Doch macht die neue Technik wirklich alles besser? Die ersten Tage im neuen Jahr zeigen: Es gibt überall im Land Startschwierigkeiten, auch in Norderstedt.
„Das E-Rezept ist prinzipiell eine sinnvolle Sache. Doch die Umsetzung ist ein großes Problem. Da die verwendete Technik veraltet ist, kommt es immer wieder zu Zeitverzögerungen und Störungen“, sagt Dr. Sven Warrelmann, Facharzt für Allgemeinmedizin in Norderstedt. Das Problem: „Das E-Rezept wird über die Telematikinfrastruktur übertragen – und die hakt an allen Ecken und Kanten“, so Warrelmann.
E-Rezept: „System ist in vielen Punkten nicht praxistauglich“
Die Telematikinfrastruktur ist laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung so etwas wie die „Datenautobahn im Gesundheitswesen“. Sie vernetzt alle Akteure miteinander und soll eine schnelle und sichere Kommunikation zwischen Ärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern, Apotheken und anderen ermöglichen. Medizinische Informationen, die für die Behandlung von Patientinnen und Patienten benötigt werden, sollen so schneller und einfacher für alle verfügbar sein. Heißt es.
„Leider wurde dieses System jedoch von Software-Experten weitgehend ohne die Beteiligung von Ärzten entwickelt – und ist daher in vielen Punkten nicht praxistauglich“, kritisiert Dr. Sven Warrelmann.
Honorarkürzungen drohen, wenn Ärzte Papierrezept ausstellen
Seit diesem Jahr sind Ärzte und Zahnärzte verpflichtet, Rezepte für gesetzlich Versicherte in elektronischer Form auszustellen. Ärzten, die kein E-Rezept ausstellen, drohen Honorarkürzungen von voraussichtlich 1 Prozent. Das sorgt bei vielen Medizinern wie Dr. Warrelmann für Ärger: „Wenn man schon mit Strafe droht, müssen auch die technischen Voraussetzungen für den reibungslosen Ablauf geschaffen werden.“
In der Hausärztlichen Gemeinschaftspraxis Warrelmann/Flamm hat man bereits im Dezember mit der Umstellung begonnen, damit „es im Januar kein Chaos gibt“. Bis zu 100 Rezepte werden täglich in seiner Praxis an der Mittelstraße ausgestellt. Bei einer Neumedikation muss das Rezept vom Arzt selbst kommen, bei einer Vormedikation kann es auch von den Medizinischen Fachangestellten ausgestellt werden. In jedem Fall wird das Rezept ärztlich kontrolliert und freigegeben.
Patienten haben drei Möglichkeiten, ein E-Rezept einzulösen
Das Vorgehen: Die Patienten lassen ihre Versichertenkarte zu Beginn des Quartals einlesen. Die Praxis erstellt online das Rezept, die Daten werden bei der Telematikinfrastruktur gespeichert. Patienten haben dann drei Möglichkeiten, das elektronische Rezept in der Apotheke einzulösen: Sie können dort die Gesundheitskarte vorzeigen, eine App auf dem Smartphone nutzen oder den Arzt bitten, einen QR-Code in der Praxis auszudrucken. Die meisten Patientinnen und Patienten lösen das E-Rezept im Moment mit ihrer Gesundheitskarte ein.
Alle drei Wege dienen der Apotheke als Schlüssel, um an das digitale Rezept zu gelangen und die richtigen Medikamente herauszugeben. Sollte die Technik versagen, haben Ärztinnen und Ärzte nach wie vor die Möglichkeit, das altbewährte Papierrezept auszustellen. Das Prinzip klingt einfach, die Realität sieht oft anders aus.
Ärzte müssen elektronisches Rezept signieren
Ortsbesuch bei der Erlen Apotheke in Norderstedt. René Solterbeck ist genervt. Der 53-Jährige wollte ein Rezept für seine Frau in der Apotheke einlösen, hat sogar extra ihre Gesundheitskarte dabei – trotzdem geht er vorerst mit leeren Händen nach Hause. „Alles wollen sie einfacher machen und dann funktioniert es nicht“, schimpft er. „Was sollen ältere Menschen machen?“
Das Problem: Ärzte müssen das E-Rezept erst freischalten. „Dazu müssen sie eine sechsstellige PIN eingeben. Die ersetzt quasi ihre Unterschrift“, erklärt Stephanie Suhrbier, Inhaberin der Erlen Apotheke. Doch das kostet Zeit. Einige Ärztinnen und Ärzte setzen die elektronische Signatur sofort unter jedes Rezept, andere lassen den digitalen Stapel erst wachsen und schalten ihn nach einer halben Stunde oder länger frei. Viele Patienten gehen aber direkt nach ihrem Arztbesuch in die benachbarte Apotheke. „Und wir haben dann keinen Zugriff auf die Medikamente“, erklärt Stephanie Suhrbier.
Nur Arzneimittel können digital verschrieben werden
Angela Kühl verlässt mit den gewünschten Medikamenten die Apotheke. Die 64-Jährige ist zufrieden. Sie konnte ohne Probleme mit ihrer Gesundheitskarte das vom Hausarzt ausgestellte E-Rezept einlösen. „Das habe ich schon öfter gemacht“, sagt sie. Schon seit November, bevor das elektronische Rezept verpflichtend wurde, nutzt sie die neue Technik. „Das spart Papier und mir Wege zur Ärztin“, sagt sie.
Im „Großen und Ganzen“ sei das elektronische Rezept sehr praktisch. „Aber Ärzte müssten ihre Patienten noch viel detaillierter informieren. Einlagen zum Beispiel bekommt man nicht über das E-Rezept“, sagt Kühl. In der Tat: Orthopädische Einlagen gelten als medizinisches Hilfsmittel und werden noch über das klassische rosafarbene Rezept verordnet. Eine besondere Situation erleben derzeit Diabetiker: Insulin können Ärzte per E-Rezept verschreiben, weil es sich um ein Arzneimittel handelt – für Spritzen und Blutzuckerteststreifen müssen sie jedoch den herkömmlichen Papierzettel nutzen.
„Mitten in der Erkältungswelle“: Apothekerin kritisiert Startzeitpunkt
Stephanie Suhrbier beobachtet in diesen Tagen, dass trotz der neuen Verpflichtung die meisten Kunden immer noch mit dem klassischen Papierbogen in die Apotheke kommen. „Derzeit haben maximal 10 bis 20 Prozent der Patienten ein E-Rezept“, schätzt sie. Trotz der angedrohten Strafen scheinen viele Ärzte noch nicht mit dem neuen System zu arbeiten – oder zu große technische Probleme zu haben.
Die Erlen Apotheke ist bereits seit Herbst 2022 mit der notwendigen Technik ausgestattet. Die Mitarbeitenden hatten Zeit, den neuen Vorgang kennenzulernen. Inhaberin Suhrbier ist dennoch nicht überzeugt von der Umstellung. „Für mich ist das kein Prozess, der unbedingt hätte digitalisiert werden müssen“, sagt sie. Das alte System sei routiniert gewesen. Der Start des E-Rezepts liege zudem mitten in der Erkältungswelle. „Gerade sind wir sowieso alle am Limit. Im Sommer wäre es ruhiger gewesen“, sagt die 31-Jährige.
Suhrbier: Neue digitale Arbeitsweise muss „krisenfest“ sein
Aus ihrer Sicht muss die neue digitale Arbeitsweise zu 100 Prozent „krisenfest“ sein. „Das ist sie noch nicht. Was machen wir, wenn die Telematikinfrastruktur ausfällt? Wir sind auf Internet und Strom angewiesen“, sagt die Apothekerin. Dennoch sei sie „positiv überrascht“, wie gut das System bisher funktioniere, ohne zusammenzubrechen.
Kerstin Grohnert steht der Digitalisierung offen gegenüber. „Ich habe mich schon schlau gemacht“, sagt die 71-Jährige. Grohnert hat in der Erlen Apotheke ein rosa Rezept aus dem alten Jahr eingelöst. Von nun an möchte sie aber die E-Rezept-App nutzen. „Ich finde, das ist ein guter Weg“, sagt sie.
Registrierungsverfahren für App ist herausfordernd
„Die App benutzen in unserer Apotheke bisher nur drei Leute“, berichtet Stephanie Suhrbier. Die Inhaberin selbst hat alle drei Wege ausprobiert, ein E-Rezept einzulösen. Die Gesundheitskarte verwenden die Patienten am häufigsten, sagt sie. „Das funktioniert gut.“
Eine Herausforderung stelle hingegen das Registrierungsverfahren für die Handy-App dar. „Um sich anzumelden, braucht man eine PIN für seine elektronische Gesundheitskarte. Diese muss man bei der Krankenkasse beantragen und erhält sie nur mit einem Ident-Verfahren“, berichtet Suhrbier.
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Per Einschreiben hat ihre Krankenkasse die wichtige Identifikationsnummer an sie verschickt. Der Brief kam an einem Sonnabend an. Suhrbier hatte Glück, dass sie an diesem Tag zufällig in der Apotheke gearbeitet hat und die Post annehmen konnte. „Ich musste der Briefträgerin meinen Personalausweis zeigen“, sagt sie. Ansonsten wäre der Brief zurückgegangen. „Jede Krankenkasse hat ihr eigenes Verfahren. Aber warum muss es so kompliziert sein? Da ist es einfacher, die PIN für eine Bankkarte zu bekommen“, kritisiert sie.
E-Rezepte müssen ohne Formfehler eingelöst werden
Besonders gespannt ist die junge Apothekerin auf die Abrechnung der neuen E-Rezepte. Die Krankenkassen haben bis zu eineinhalb Jahre Zeit, zu prüfen, ob alle Apotheken die Rezepte richtig eingelöst haben. In der Vergangenheit sind immer wieder Formfehler aufgetreten, die Ärzte gemacht haben und Apotheken handschriftlich korrigieren konnten. Das ist nun nicht mehr möglich. „Es soll eine Software geben, die die Rezepte kontrolliert – aber die ist noch nicht fertig“, sagt Suhrbier.
Sie hofft auf Kulanz der Krankenkassen. Ansonsten bedeutet jedes nicht richtig ausgestellte E-Rezept, dass die Apotheke kein Geld für die ausgegebenen Medikamente bekommt. „Das ist meine Lebensgrundlage“, betont Suhrbier.