Kreis Segeberg. Das elektronische Rezept sollte den „rosa Zettel“ ablösen. Doch Apotheken, Datenschützer und Ärzte sehen erhebliche Hürden.
Die Zettelwirtschaft sollte ein Ende haben. Denn wer im Kreis Segeberg ein Medikament verschrieben bekommt, muss nach wie vor einen kleinen Zettel von seiner Arztpraxis in eine Apotheke tragen. Das sollte sich ändern. Schleswig-Holstein wollte ab 1. September eine Vorreiterrolle in der sukzessiven Einführung elektronischer Rezepte (E-Rezepte) einnehmen. Doch daraus wird nichts: Wenige Tage vor dem Start hat sich die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) aus der sogenannten Rollout-Phase zurückgezogen.
Grund sei, dass eine Umsetzung per E-Mail nach dem Landesdatenschutzgesetz untersagt sei. Damit sei der für Patienten „praktikabelste Transportweg“ versperrt. Die KVSH hatte die Datenschützer selbst eingeschaltet – und nun eine negative Stellungnahme von der Landesdatenschutzbeauftragten Marit Hansen bekommen.
Schleswig-Holstein: Darum stoppen Ärzte das E-Rezept im Norden
„Der Nutzen des E-Rezepts liegt für Arztpraxen im Komfort der bürokratiearmen Erstellung und für Patienten in der Einsparung mehrfacher Wege, was besonders für Menschen in ländlichen Bereichen vorteilhaft wäre. Beides kann momentan nicht erreicht werden“, sagt die Vorstandsvorsitzende der KVSH, Dr. Monika Schliffke.
Hinzu komme, dass auch erzeugte datenlose Transfer-QR-Codes als Gesundheitsdaten einzustufen seien. Frei erhältliche Apps ermöglichten es so jedem, der den QR-Code befugt oder unbefugt besitze, die Verordnung einzusehen. Aktuell endet die formale Arzthaftung mit der Rezeptübergabe an den Patienten. Ob dieser Medikamente abhole oder nicht, es verliere oder auf seine Facebookseite stelle, liege nicht mehr in der Verantwortung des Arztes.
Datenschutz erlaubt nur noch drei digitale Wege
„Das ist in der digitalen Welt anders“, sagt Monika Schliffke. „Wir lassen die Praxen nicht in eine Falle laufen, denn die Praxen würden für diesen Missbrauch haften.“ Die Argumentation des Datenschutzes sei zwar formal, aber nicht inhaltlich nachvollziehbar. Sie beeinträchtige das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zum Umgang mit seinen Daten. Sogar die „Zustimmung von Versicherten in einen unverschlüsselten Versand ist rechtlich nicht möglich“, heißt es in dem Schreiben der Datenschützer.
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Damit bleiben für die KVSH nur noch drei Optionen digitaler Wege. Die Gematik-App könne momentan kaum genutzt werden, weil es wegen fehlender Chips an Gesundheitskarten mangelt, nur wenige Patienten die geforderten Smartphone-Typen haben und die Einrichtung der App durch Verbot des Video-Ident-Verfahrens der Krankenkassen erschwert wird. Das Einstellen in eine elektronische Patientenakte (ePA) scheitere an deren minimalem Vorhandensein. Und für die Code-Übertragung per Kommunikationsdienst KIM seien in Schleswig-Holstein nur eine Handvoll Apotheken ausgestattet.
E-Rezept: Versicherte sind nur „unzureichend informiert“
„Das läuft auf 99 Prozent Papierausdrucke hinaus, was keinem unserer Ziele zur Digitalisierung nahekommt“, sagt Schliffke. „Bis auf Weiteres“ ist die KVSH deshalb nicht mehr beim E-Rezept dabei. Sie will sich erst wieder einschalten, wenn gegebenenfalls durch Gesetzesanpassungen oder technische Neuerungen eine praxis- und patientengerechte Alltagstauglichkeit absehbar ist.
Auch die Kassenzahnärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KZV S-H) übt Kritik an dem Projekt: „Wir müssen feststellen, dass die Versicherten wenige Tage vor dem geplanten Rollout nur unzureichend über das E-Rezept informiert sind“, sagt der Vorstandsvorsitzende der KZV Schleswig-Holstein, Dr. Michael Diercks. „Hier sehen wir die Krankenkassen, die Nationale Agentur für Digitale Medizin – gematik – und das Bundesgesundheitsministerium in der Pflicht.“ Die grundsätzliche Aufklärung über das E-Rezept könne neben der Patientenversorgung nicht von den Praxen geleistet werden.
Apotheken ab 1. September verpflichtet, E-Rezepte anzunehmen
Trotzdem sind Apotheken bundesweit ab 1. September verpflichtet, E-Rezepte technisch anzunehmen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe sollten die ersten beiden Pilotregionen für das Ausstellen von E-Rezepten sein. Nach und nach sollten weitere KV-Regionen hinzukommen.
So funktioniert es: Das E-Rezept wird vom Arzt in einem bundesweiten Netzwerk gespeichert. Der Patient erhält einen QR-Code als Schlüssel – entweder auf eine App im Handy oder auf Papier – mit dem er auf seine Daten zugreifen kann. Diesen Code kann der Patient dann in der Apotheke vorzeigen oder elektronisch per App übermitteln. Die Apotheke scannt den Code und gibt das richtige Medikament aus. Zunächst wird das E-Rezept ausschließlich für gesetzlich Versicherte eingeführt.
Elektronische Rezepte: Immer wieder tauchen Probleme auf
Die KVSH will jetzt ihre bereits terminierten Schulungen zum Thema abschließen. Auch bei speziellen Fragen zum E-Rezept sei sie weiterhin erreichbar. Seit Monaten wurde gemeinsam mit Softwarefirmen intensiv daran gearbeitet, die Praxen zu schulen, so Nikolaus Schmidt, Sprecher der KVSH. Rund zehn Prozent der Praxen im Land stellten bereits E-Rezepte aus. Auch im Kreis Segeberg beteiligen sich etliche Ärzte.
Die KVSH habe dabei viel Überzeugungsarbeit geleistet, so Schmidt. „Die Anwender müssen sehen, dass das E-Rezept eine Erleichterung ist. Das sehen sie nur, wenn sie es mal gemacht haben. Und dafür sind Kapazitäten in der Praxis notwendig“, sagt er. Allerdings seien die Erfahrungen der Ärzte eher negativ, weil es immer wieder technische Probleme gebe.
Das bestätigt Dr. Hans Irmer, Kreisstellenvorsitzender der KVSH und Hausarzt in Ahrensburg. „Das klingt theoretisch alles traumhaft und gut, aber die Umsetzung ist noch nicht, wie man sich das vorstellt.“
Technische Schwierigkeiten: Einführung mehrmals verschoben
Die Einführung des E-Rezepts wurde aufgrund von technischen Schwierigkeiten schon mehrmals verschoben. Eigentlich sollte es bereits zum 1. Januar dieses Jahres an den Start gehen. KVSH-Sprecher Schmidt sieht eine Ursache für die Verzögerungen auch in der Kommunikation aus dem Bundesgesundheitsministerium. „Als der erste Entwurf kam, wurden wir von Berlin überfahren. Die haben uns einen verbindlichen Termin gesetzt, ohne das abzusprechen“, so Schmidt. Vorerst bleibt die Ausstellung von E-Rezepten für Arztpraxen freiwillig.
Stephanie Suhrbier ist technisch längst vorbereitet, um E-Rezepte einzulösen. Im Fenster der Erlen-Apotheke in Norderstedt hängen Schilder mit QR-Codes, die auf das neue System hinweisen. Zusätzlich verteilt sie Flyer, um Kunden über die Neuerung aufzuklären. „An sich halte ich das E-Rezept für eine gute Idee. Wir müssen auch im Gesundheitsbereich digitaler werden und Papier sparen“, sagt die Apotheken-Inhaberin.
Norderstedt: Apotheken sorgen sich um Blackout-Szenario
Allerdings sorgt ein Szenario, das durch die aktuelle Energiekrise nicht mehr abwegig erscheint, bei Suhrbier für große Bedenken: „Was machen wir im Falle eines Blackouts?“ Elektronische Rezepte könne sie ohne Strom nicht erfassen und Patienten keine Medikamente herausgeben. „Nicht nur der Strom, sondern auch das Internet müssen dafür funktionieren.“ Sie ist der Meinung, dass die neue digitale Infrastruktur krisensicher sein muss. „Wir müssen uns vorher Gedanken machen und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.“
Nicolas Ahlers, Inhaber der Norderstedter Moorbek-Apotheke, steht aus diesem Grund dem E-Rezept skeptisch gegenüber. „Ob die Digitalisierung wirklich immer sinnvoll ist, weiß ich nicht“, sagt er. Bisher sei das Prinzip denkbar einfach gewesen: Der Patient hätte sich sein Rezept beim Arzt abgeholt, es in der Apotheke vorgezeigt und dort seine Medikamente bekommen. „Nun sind wir extrem abhängig von der Technik. Sollte der Server abstürzen, sind wir nicht handlungsfähig“, gibt Ahlers zu bedenken.
Noch wollen kaum Kunden ein E-Rezept in seiner Apotheke einlösen. „Im Durchschnitt ist es vielleicht eine Person pro Tag“, sagt er.
Schleswig-Holstein: E-Rezept könnte die Geschwindigkeit erhöhen
Und was ist mit der älteren Generation, die eventuell nicht so technikaffin ist? „Als in der Corona-Pandemie das digitale Impfzertifikat eingeführt wurde, war ich erstaunt, wie viele ältere Menschen es auf dem Handy hatten“, sagt Ahlers. Auch Christoph Steinhart von der Vitalhus-Apotheke in Norderstedt glaubt, dass sich für Ältere nicht viel ändert. „Der Arzt kann ihnen den QR-Code einfach ausdrucken“, sagt er.
Steinhart meint, man dürfe sich vor dem Neuen nicht verschließen. „Am Anfang läuft es vielleicht etwas holprig, aber wenn es funktioniert, ist es eine feine Sache.“ Das digitale Rezept könne die Heimversorgung wesentlich vereinfachen. Mitarbeiter der Apotheke müssten nicht mehr bei jedem Arzt die Rezepte abholen, ehe sie Medikamente an Patienten ausliefern könnten. „Es verstreicht keine Zeit mehr. Die Geschwindigkeit nimmt zu. Das ist ein großer Vorteil.“