Bad Bramstedt. 16 Kinder von Zwangsarbeiterinnen in „Ausländer-Pflegestätte“ zu Tode gequält: Eine Geschichte über menschliche Abartigkeit.

15 kleine Findlinge erinnern auf dem Friedhof in Bad Bramstedt seit wenigen Monaten an Kinder, die vor acht Jahrzehnten verstorben sind, nachdem sie nur wenige Tage leben durften. 15 Erinnerungssteine – und hinter jedem steckt ein bis heute unfassbares Schicksal: Die meisten dieser Kinder verhungerten in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges oder kurz nach Kriegsende.

Heimatforscher Uwe Fentsahm aus dem Dorf Brügge im Kreis Rendsburg-Eckernförde hat die Geschichte dieser Kinder und deren Gräber im Heimatkundlichen Jahrbuch 2023 für den Kreis Segeberg unter dem Titel „Die verstorbenen Kinder von NS-Zwangsarbeiterinnen: Warum sind ihre Gräber nach 1945 so schnell verschwunden?“ veröffentlicht.

Die vergessenen Kinder – Uwe Fentsahm hat die Schicksale aufgearbeitet

Findlinge Namen erinnern an die verstorbenen Kinder, die kurz vor und nach dem Kriegsende auf dem Friedhof in Bad Bramstedt begraben wurden. Die Erinnerungsstätte wurde im Mai 2023 eingeweiht.
Findlinge Namen erinnern an die verstorbenen Kinder, die kurz vor und nach dem Kriegsende auf dem Friedhof in Bad Bramstedt begraben wurden. Die Erinnerungsstätte wurde im Mai 2023 eingeweiht. © Hans-Jürgen Kütbach | Hans-Jürgen Kütbach

Schon seit Jahren beschäftigt sich Uwe Fentsahm mit den Schicksalen dieser Kinder, die im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geraten sind und erst jetzt in Bad Bramstedt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Er ist im Zuge seiner Recherchen auf menschliche Abartigkeiten gestoßen, die nicht nur nach heutigen Maßstäben unfassbar sind.

Junge Zwangsarbeiterinnen, die nach Kriegsbeginn im Jahre 1939 zunächst aus Polen, später verstärkt aus der Ukraine mit Sonderzügen nach Deutschland deportiert wurden, sind die Mütter dieser Kinder, die oft schon nach kurzer Zeit verstarben. Warum die Frauen schwanger wurden, steht nicht in der im Buch veröffentlichten Geschichte, aber Autor Uwe Fentsahm erläutert: „Schwangere wurden wieder in die Heimat transportiert.“ Er geht deshalb davon aus, dass viele dieser Arbeiterinnen eine Schwangerschaft bewusst in Kauf genommen haben, um der Zwangsarbeit zu entgehen..

In Ausländerkinder-Pflegestätten wurden die Kinder zu Tode gepflegt

Was viele aber offenbar nicht wussten: Heinrich Himmler, einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust, hatte am 27. Juli 1943 angeordnet, dass schwangere Frauen in Deutschland zu bleiben hätten. Und mit ihnen die Kinder. Für sie wurden „Ausländerkinder-Pflegestätten“ eingerichtet – wobei das Wort „Pflegestätten“ nach den Erkenntnissen von Uwe Fentsahm nicht das richtige Wort war: Viele Kinder wurden hier zu Tode gepflegt. Oft in kürzester Zeit.

So zum Beispiel in der „Ausländerkinder-Pflegestätte“ Wiemersdorf in der Nähe von Bad Bramstedt. Dort verstarben innerhalb kürzester Zeit 16 Säuglinge, weil es für sie keine Milch gab. „Die Meierei Bad Bramstedt verweigerte die Herausgabe von Milch“, sagt Uwe Fentsahm. Allerdings handelten die Meierei-Mitarbeiter dabei nicht aus eigenen Antrieb: Der Wiemersdorfer Bürgermeister und SA-Sturmführer Hans Schümann hatte angeordnet, keinerlei Milchprodukte an die Pflegestätte auszuliefern. Kurz nach Kriegsende, am 14. Juli 1945 musste Schümann für diese grausame Anordnung büßen.

Der Bürgermeister von Wiemersdorf wurde aus Rache erschlagen

Der Wiemersdorfer Chronist und Lehrer Wilhelm Mohr schrieb die Geschehnisse im Juli 1945 auf: „Am 14. dieses Monats ereignete sich im benachbarten Wiemersdorf eine schwere Bluttat. Als der in der ganzen Umgegend beliebte ehemalige Amtsvorsteher, Bürgermeister und Sturmführer der S.A. Hans Schümann mit seinem Sohne in den ersten Morgenstunden vom Felde heimkehrte, wurden sie von etwa 15 Polen aufgelauert und verfolgt.“

Und weiter: „Mit Gewalt drangen die Verfolger darauf in das Haus, in das die beiden Bedrängten geflüchtet waren, zertrümmerten dem Vater mit der Axt die Schädeldecke, durchstachen ihm die Schlagader am Halse, so dass der Tod bald eingetreten sein muss. Die Stubeneinrichtung wurde von den Polen kurz und klein geschlagen. Der Sohn musste im schwerverletzten Zustande ins Krankenhaus gebracht werden. Vier Haupträdelsführer der Polen wurden verhaftet und nach Segeberg abgeführt. Da man einen Überfall der Polen auf das Leichenbegängnis befürchtete, musste dieses durch bewaffnete Engländer beschützt werden.“ Über das Motiv der Polen verlor der Chronist damals kein Wort.

Babys wurden von Behörden als „feindliche Ausländer“ geführt

Auf dem Friedhof in Bad Bramstedt sind in der Zeit von 1944 bis 1946 fünfzehn Kinder von Zwangsarbeiterinnen aus dem Ausland beerdigt worden. Neun von ihnen waren im damals sogenannten „Ostarbeiter-Kinderheim“ in Wiemersdorf verstorben. Die übrigen kamen aus Bad Bramstedt (2), Fuhlendorf (2), Föhrden-Barl und Bimöhlen. Im Durchschnitt lebten sie 112 Tage.

Zum Beispiel Henry Hetner, der nur 114 Tage gelebt hat und ist als erstes Kind im „Ostarbeiter-Kinderheim“ in Wiemersdorf verstorben ist. Seine Mutter war die 1923 geborene Genowefa Hetner, die schon 1940 als 17-jährige nach Wiemersdorf gekommen war und zwangsweise in der Landwirtschaft auf dem Bauernhof von Hans Horns arbeiten musste. Im Beerdigungsregister wurde er als „feindlicher Ausländer“ gekennzeichnet. Eine Bezeichnung, die nicht ausreichte, um Henrys letzte Ruhestätte als Kriegsgrab anzuerkennen.

Für Kindergräber gab es keine offiziellen Pflegezuschüsse

Nur offizielle Kriegsgräber werden für die Pflege bezuschusst. So bekommt die Stadt Bad Bramstedt bis heute jährlich einen staatlichen Zuschuss von 24,75 Euro pro Einzelgrab. Nach dem Krieg waren es sieben bis acht Mark pro Grab. Für die Kindergräber aber wurde dieser Zuschuss nie gezahlt – ein Grund, diese nach dem Kriege zu beseitigen und einzuebnen. So gingen die Behörden nicht nur in Bad Bramstedt vor.

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Auf dem Friedhof in Warder (bei Bad Segeberg) sind 1944 die Geschwister Daniella und Christine Klys im Abstand von einem Monat beerdigt worden. Daniella wurde nur ein Jahr und zwei Tage alt, ihre Schwester Christine hat zwei Jahre und 63 Tage überlebt. Beide waren auf dem Margarethenhof in der Gemeinde Rohlstorf geboren worden, wo ihre Eltern zwangsweise in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Die zugehörigen Gräber sucht man heute auf dem Friedhof in Warder vergebens.

In Bad Bramstedt erinnern jetzt Findlinge an die verstorbenen Kinder

Mit kleinen Findlingen und einer erklärenden Infotafel wird auf dem Friedhof Bad Bramstedt heute der getöteten Kinder der Zwangsarbeiterinnen gedacht.
Mit kleinen Findlingen und einer erklärenden Infotafel wird auf dem Friedhof Bad Bramstedt heute der getöteten Kinder der Zwangsarbeiterinnen gedacht. © Kütbach | Kütbach

Die Kirchengemeinde und die Stadt Bad Bramstedt haben sich gemeinsam entschlossen, an die Schicksale der vergessenen Kinder zu erinnern. Für jedes der Kinder wurde ein kleiner Findling mit den jeweiligen Lebensdaten versehen. Die neue Anlage wurde ganz in der Nähe des Ortes errichtet, an dem sich das frühere „Massengrab für feindliche Ausländer“ befunden hat.

Zum besseren Verständnis der gesamten Kriegsgräberanlage gibt es jetzt mehrere Informationstafeln. Mit diesem Projekt wird versucht, auf dem Friedhof in Bad Bramstedt einen außerschulischen Lernort und einen Ort der Erinnerung zu schaffen. Die Anlage wurde am 13. Mai 2023 eingeweiht.

Das „Heimatkundliche Jahrbuch für den Kreis Segeberg 2023“, herausgegeben vom Heimatverein des Kreises Segeberg, umfasst 203 Seiten und kostet 18 Euro. 16 Autoren haben 22 unterschiedliche Geschichten, die sich mit der Vergangenheit des Kreises befassen, geschrieben. Es ist im örtlichen Buchhandel erhältlich. Nähere Informationen unter www.heimatverein-kreis-segeberg.de im Internet.