Rohlstorf/Kiel. Es wäre eine der höchsten Strafen, die je im Norden für Sexualdelikte verhängt wurde. 71-Jähriger handelte „beispiellos“.

Ein Rentner, der seit Mitte der 90er-Jahre immer wieder Kinder in seinem Einfamilienhaus in Rohlstorf im Kreis Segeberg missbrauchte, soll die Vielzahl seiner Taten laut Anklage mit einer der schwersten Haftstrafen büßen, die jemals für Sexualstraftaten im Norden verhängt wurden. Staatsanwältin Julia-Katharina Henze forderte am Montag zehn Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe für den nicht vorbestraften 71-Jährigen.

Die Staatsanwältin begründete die hohe Forderung mit der im Landgerichtsbezirk beispiellosen Zahl der überwiegend schweren Fälle und der Dauer des Tatzeitraums. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hatte sich der Angeklagte, der seit dem Tod seiner Mutter (2011) allein in ländlicher Umgebung lebte, im eigenen Haus an mindestens sieben Kindern vergangen.

Jugendkammer urteilt jetzt noch über 284 Tatvorwürfe

Nach Einstellung zahlreicher geringerer Vorwürfe hat das Gericht jetzt noch 284 von 462 Taten abzuurteilen. Zum Opfer wurden stets Jungen und Mädchen aus der Familie des Angeklagten oder der unmittelbaren Nachbarschaft. Manche Eltern vertrauten dem als Eigenbrötler geltenden Dorfbewohner ihre Kinder über Jahre hinweg an. Nach ihren Aussagen gab es deutliche Warnsignale für die Übergriffigkeit des Mannes, die jedoch nicht beachtet oder verdrängt wurden.

Einer betroffenen Familie diente der Nachbar jahrelang als selbstloser Bauhelfer bei der Sanierung ihres Eigenheims. „Schwer nachvollziehbar“ nannte es die Staatsanwältin, dass eine betroffene Mutter, die Mitte der 90er-Jahre selbst von dem „Onkel“ nach dem Baden minutenlang angefasst und dies zwei Freundinnen anvertraut hatte, dem Täter später ihrer eigenen Kinder zuführte. Die auch dadurch gesenkte Hemmschwelle, das (Teil-)Geständnis und die besondere Haftempfindlichkeit des gesundheitlich angeschlagenen Täters wertete Henze strafmildernd.

Kinder durch „Zuwendung, die sie zu Hause nicht hatten“ manipuliert

Strafverschärfend schlug für die Staatsanwältin zu Buche, dass der laut Gutachten voll schuldfähige Angeklagte das Vertrauen der Kinder und Eltern auf unfassbare Weise ausgenutzt habe. Durch „Zuwendung, die die Kinder zu Hause nicht hatten“, habe er sie manipuliert und teilweise über viele Jahre hinweg an Wochenenden und in den Schulferien sexuell missbraucht.

Ein Junge, der am längsten von allen Kindern über viele Jahre hinweg immer wieder schwer missbraucht wurde, sei vom Täter sogar in die Rolle eines Komplizen gedrängt worden, so die Staatsanwältin: Vor laufender Kamera habe er ein Mädchen aufgefordert, die Beine weiter zu spreizen und sich nicht so anzustellen. Heute leide er unter Schuldgefühlen.

Für „die schlimmste Tat“ fünf Jahre und drei Monate Haft gefordert

Seine Ausbildung hat dieser Jugendliche abgebrochen. Die erniedrigenden Missbrauchserfahrungen versucht er in einer Therapie aufzuarbeiten. Ihn hatte der Täter im Fall 435 der Anklage dazu angehalten, mit einer Minderjährigen den Geschlechtsverkehr auszuüben, „obwohl es ihr wehtat“. Für die Staatsanwältin ist allein diese „schlimmste Tat“ mit fünf Jahren und drei Monaten zu ahnden.

Auf Grundlage dieser höchsten Einsatzstrafe fasste die Anklägerin sämtliche 284 Einzelstrafen zu einer Gesamtstrafe von knapp elf Jahren zusammen. „Straffer geht es nicht“, verwies Henze auf die hohe Zahl der Opfer und Taten. Die Anwälte der Nebenklage schlossen sich an und forderten zwischen 3000 und 20.000 Euro Schmerzensgeld für die einzelnen Opfer.

„Ein schlichtes `Nein` hätte vieles verhindern können“

„Mit einem schlichten Nein hätte vieles verhindert werden können“, bemerkte Strafverteidiger Gerhard Braun. Überlegungen zur elterlichen Mitverantwortung führte er jedoch nicht aus und meldete auch keine Zweifel am Ergebnis des psychologischen Gutachtens zur Schuldfähigkeit an.

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Der Anwalt sprach nur wenige Minuten und legte sich auf kein konkretes Strafmaß fest. Braun betonte, schon eine deutlich mildere Strafe bedeute für seinen besonders haftempfindlichen Mandanten „lebenslang“. Statistisch habe er gerade mal noch sechs Jahre vor sich.

Jugendkammer hatte zu Prozessbeginn fünf bis sechs Jahre Haft ins Spiel gebracht

Eine Strafe zwischen fünf und sechs Jahren hatte die Jugendkammer zu Prozessbeginn als Vorschlag für eine Verständigung ins Spiel gebracht. Doch die Einigung scheiterte an der hohen Forderung der Staatsanwaltschaft. Das Gericht sah Anzeichen für eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten, die der psychologische Sachverständige in seinem Gutachten jedoch verneinte.

Der Sexualmediziner sprach von einem Grenzfall. Er diagnostizierte drei Persönlichkeitsstörungen, die auch im Zusammenwirken keine erheblich verminderte Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit begründeten. Opfer-Anwalt Oliver Dedow kritisierte am Montag, die Kammer habe das Gutachten sechs Stunden lang hinterfragt und allzu intensiv nach entlastenden Momenten gesucht. Dies allerdings ist Aufgabe des Gerichts, das der Einschätzung des Sachverständigen nicht zwingend folgen muss. Das Urteil soll am kommenden Montag verkündet werden.