Kiel/Kreis Segeberg. Landgericht Kiel: Gutachter sieht bei 71-Jährigem „keine erhebliche Einschränkung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“

Ist der 71-jährige Rentner, der nach eigenem Geständnis seit Mitte der 90er Jahre immer wieder Kinder in seinem Einfamilienhaus im Kreis Segeberg sexuell missbrauchte, voll schuldfähig? Oder kann er im Fall der Verurteilung mit mildernden Umständen rechnen? Ein psychiatrischer Sachverständiger sah am Mittwoch im Kieler Landgericht „keine erhebliche Einschränkung seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“.

Für die Strafmessung würde dies im Fall eines schweren sexuellen Missbrauchs, der mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, zwei Jahre Mindeststrafe bedeuten. Angeklagt sind insgesamt 462 auch weniger gravierende Taten. Die Einzelstrafen werden vom Gericht bei der Bildung der Gesamtstrafe nicht addiert, sondern mehr oder weniger straff zusammengezogen.

Gutachter sieht drei problematische Persönlichkeitsmerkmale

Der Sachverständige Dr. Stjepan Curic ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum in Hamburg-Eppendorf. Er hat den Angeklagten zwei Mal in U-Haft besucht, den ganzen Prozess über beobachtet und zahlreichen Tests unterzogen. Nach seinen Ausführungen wird das Denken, Fühlen und Handeln des im Kern geständigen 71-Jährigen vor allem von drei Eigenschaften beeinflusst.

Zum ersten sieht der Sexualmediziner bei dem 71-Jährigen eine pädophile Neigung, die ein gesteigertes sexuelles Interesse an Kindern beinhalte, ihn jedoch nicht im Sinn eines unüberwindlichen Triebs beherrsche. Zum zweiten bescheinigt er dem Einzelgänger eine schizoide Persönlichkeitsstörung, die seine sozialen Kontakte und Fähigkeit zur Empathie einschränke.

Hohes „Funktionsniveau“ im Arbeits- und Privatleben

Zum dritten müsse man bei einem IQ von 69 von einer leichten Intelligenzminderung sprechen, die sich beim Angeklagten bereits in der Kindheit als Lernschwäche gezeigt habe. Keines dieser drei Persönlichkeitsmerkmale begründet aus Sicht des Gutachters eine erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit – auch nicht im Zusammenwirken.

Gegen schwere Einschränkungen spreche das unerwartet hohe „Funktionsniveau“ des Angeklagten, der sein Arbeitsleben trotz seiner Defizite ganz gut auf die Reihe bekommen habe. Zudem habe er ohne fremde Hilfe seine Mutter gepflegt und die Kontakte zu Kindern inklusive Beherbergung, Verpflegung und Freizeitgestaltung effektiv organisiert.

Das Unrechtsbewusstsein des Angeklagten sei zwar gering, so der Sachverständige. Doch er habe „gewusst, dass er das nicht machen darf“. Dafür spreche auch sein heimliches Handeln im Verborgenen. „Wenn Du wüsstest!“ hatte der Angeklagte einer Bekannten geantwortet, die ihn nach seinem letzten Geschlechtsverkehr fragte.

Kinderkontakte nutzte der Angeklagte nur in seinem engsten Umfeld

Die kriminelle Energie des Angeklagten und sein Rückfallrisiko schätzte der Sachverständige im Vergleich zu anderen Sex-Tätern als eher gering ein. So habe er laut Vorwurf ausschließlich naheliegende Kontaktmöglichkeiten zu Kindern in Nachbarschaft und Familie ausgenutzt. Offenbar habe er längere Phasen ohne aktiven Missbrauch, ohne Leidensdruck erlebt. Da gebe es viel gefährlichere Täter, die auch fremden Kindern nachstellten und körperliche Gewalt einsetzten.

Gewalt will der Angeklagte nie ausgeübt und auch als Kind nie selbst erfahren haben. Die Schule in Bad Segeberg hatte er ohne Abschluss verlassen. Nach zwei Jahren als Landwirtschaftshelfer ließ er sich vom Arbeitgeber seines Vaters in einem Hamburger Tiefbauunternehmen einstellen, wo er über 30 Jahre mitarbeitete. Fließ und Genügsamkeit nannte er als bestimmende Werte seiner Familie.

Beziehungen zu Frauen konnte er nie aufbauen

Sein Elternhaus hat der nicht vorbestrafte Angeklagte nie verlassen. Dauerhafte Beziehungen zu Frauen konnte er nicht aufbauen, angeblich aus Zeit- und Geldmangel. Nachdem sein Vater bereits mit 52 Jahren gestorben war, wohnte er allein mit seiner Mutter im Haus, pflegte sie dort bis zu ihrem Tod 2011. Danach soll der Angeklagte die meisten Taten begangen haben.

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Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft umfassen auch den Besitz von 15 000 kinderpornografischen Dateien auf Handys, PC und USB-Sticks. Zu den psychologischen Tests, die er absolvierte, gehörten auch 300 Fragen zur Sexualität. Und das Sichten vorgegebener Menschenbilder am Computer.

Bildertest: Angeklagte fand junge Frauen attraktiver als Mädchen im Alter seiner Opfer

Aus seiner „Verarbeitungsgeschwindigkeit“ der angebotenen Fotos schloss der Gutachter auf die sexuellen Vorlieben des Angeklagten. Dabei habe sich gezeigt, dass er junge Frauen attraktiver fand als Mädchen im Alter seiner mutmaßlichen Opfer.

Curics Rückschluss: Der Angeklagte stehe eigentlich auf junge Frauen, greife aber auf Mädchen im vorpubertären Alter zurück. Kleine Jungen seien demnach nur dritte Wahl. Auf Nachfrage der Vorsitzenden betonte der Angeklagte gestern erneut, er habe nicht geglaubt, den Kindern mit seinem Verhalten geschadet zu haben.

Der herzkranke Diabetiker, der nach eigenen Angaben täglich zwölf Tabletten einnehmen muss, erklärte sich zu einer Gesprächstherapie bereit. Auch triebdämpfende Medikamente würde er einnehmen, wenn der Arzt dies trotz seiner diversen Krankheiten befürworte.