Norderstedt. Baukosten für neue Unterkunft sind deutlich gestiegen. Warum der prominente Schirmherr Carlo von Tiedemann die „Krätze kriegt“.
Es könnte ein herber Rückschlag für alle Obdachlosen in Norderstedt sein: Es galt bereits als beschlossen, dass die Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose (TAS) hinter dem Herold-Center am Lütjenmoor neu gebaut wird. Nach 17 Jahren sollte die viel zu klein gewordene, containerähnliche Einrichtung durch einen modernen und nachhaltigen Neubau mit Photovoltaikanlage und bestehend aus zwei Stockwerken ersetzt werden. Die Menschen sollten zusätzliche Rückzugsorte, Lager- und Büroräume bekommen. Doch dieses Vorhaben könnte nun scheitern.
Ursprünglich wurde mit Baukosten von rund 1,5 Millionen Euro kalkuliert. 2021 hat die Stadt Norderstedt zugesagt, rund die Hälfte der Kosten zu übernehmen, und bewilligte einen Zuschuss von 800.000 Euro. Die restlichen Gelder wollte das Diakonische Werk Hamburg-West/Südholstein, das Träger der TAS ist, aus weiteren Fördermitteln, Spenden und Eigenkapital finanzieren. Doch seitdem ist viel Zeit verstrichen. Die Baukosten sind erheblich gestiegen und liegen inzwischen bei 2,245 Millionen Euro.
Diakonisches Werk bittet Norderstedt um weitere Finanzspritze
Die Diakonie bittet die Stadt erneut um Hilfe und hofft auf eine weitere Finanzspritze von 300.000 Euro, um das Projekt wie geplant realisieren zu können. Sollte die Stadt die Fördersumme auf insgesamt 1,1 Millionen Euro erhöhen, würden immer noch 200.000 Euro fehlen – aber man wäre dem Neubau einen großen Schritt näher.
Doch die Verwaltung möchte es bei dem zugesagten Zuschuss belassen. An diesem Donnerstag legt sie dem Sozialausschuss eine Vorlage zur Abstimmung vor: Darin wird der Kommunalpolitik nahegelegt, bei einer Unterstützung von 800.000 Euro zu bleiben und sich für einen ein- statt zweigeschossigen Neubau auszusprechen.
„Die Entscheidung wäre dramatisch“, sagt Tabea Müller, Leiterin der Wohnungslosenhilfe in Norderstedt. „Wir hocken viel zu dicht aufeinander.“ In der Einrichtung seien psychisch schwer belastete Menschen zu Gast, die teilweise an Warnvorstellungen litten oder aggressiv seien. „Sie alle haben unterschiedliche Bedürfnisse. Die einen brauchen einen Raum, um sich zurückzuziehen und einfach in Ruhe schlafen zu können. Die anderen suchen Gesellschaft. Wir müssen die Menschen entzerren“, sagt Müller.
Immer mehr Beratungen in der TAS
Noch nie haben so viele in Not geratene Menschen das Beratungsangebot der TAS wahrgenommen wie im vergangenen Jahr. 2021 hat die Obdachlosenhilfe 887 Beratungen durchgeführt, 2022 ist die Zahl sogar auf 1138 gestiegen. „So viele waren es noch nie“, sagt Tabea Müller. Im Durchschnitt verbringen täglich etwa 40 obdachlose Personen Zeit in der TAS. Sie essen, waschen, duschen, wärmen sich auf und lassen den Stress des Straßenlebens zumindest für ein paar Stunden hinter sich.
Der Neubau mit zwei Stockwerken soll rund 495 Quadratmeter groß werden. Würde man sich auf ein Geschoss beschränken, verkleinert sich die Fläche fast um die Hälfte auf etwa 250 Quadratmeter. „Dann hätten wir sogar ein Zimmer weniger als jetzt. Das macht für mich keinen Sinn“, sagt TAS-Leiterin Tabea Müller. Nicht nur Räumlichkeiten für Aufenthalte und Beratungen werden dringend gebraucht, auch Lagerräume für Spenden und Essen sowie eine vernünftige Küche mit ausreichend Platz zum Kochen.
„Wir haben Hoffnung, Politik zu überzeugen“
Das Diakonische Werk hat ausgerechnet, dass sich mit dem Wegfall des Obergeschosses rund 23 Prozent der Baukosten, sprich 500.000 Euro, sparen ließen. Allerdings wäre aus Sicht der Diakonie die Verkleinerung des Bauvorhabens nicht nur ein großer räumlicher Verlust, sondern könnte sich in Zukunft auch finanziell negativ auswirken: Sollte man sich wegen der fehlenden Räumlichkeiten nachträglich doch für eine Aufstockung des Gebäudes entscheiden, würde dies zusätzliche Kosten verursachen und die Gesamtsumme nochmals in die Höhe treiben.
Tabea Müller will am Donnerstag gemeinsam mit Andrea Makies, kaufmännische Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes, im Sozialausschuss für den zweistöckigen Neubau kämpfen. „Wir haben die Hoffnung, dass wir die Politik überzeugen können“, sagt Andrea Makies.
Tagesaufenthaltsstätte in Norderstedt gibt es seit 1998
Der Geschäftsführerin ist es wichtig, zu betonen, dass die Zusammenarbeit mit der Stadt Norderstedt in der Vergangenheit immer gut funktioniert hat. Seitdem die TAS 2006 an ihren heutigen Standort gezogen ist, wird der Betrieb jährlich mit 67.400 Euro unterstützt. Ursprünglich wurde die Tagesaufenthaltsstätte 1998 geschaffen, um den obdachlosen Menschen, die sich vermehrt und oft alkoholisiert in der De-Gasperi-Passage am Herold-Center getroffen haben, einen Ort zu geben, an dem sie Zuflucht finden. Und, wie es der Vorlage des Sozialausschusses zu entnehmen ist: Der „Störfaktor“, als den die Geschäftswelt und Kunden die Obdachlosen empfunden hätten, sollte beseitigt werden.
Andrea Makies möchte die Kommunalpolitik mit guten Argumenten von einem zweigeschossigen Neubau überzeugen: „Überall in Norderstedt fehlt Platz für soziale Einrichtungen. Wir schaffen diesen Raum und könnten ihn auch anderen anbieten“, sagt Makies. Zum Beispiel wären Kooperationen mit dem Jobcenter oder der Suchtberatung denkbar. Mitarbeitende könnten die Räumlichkeiten im Obergeschoss ebenfalls zeitweise nutzen.
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Einen prominenten Unterstützer hat die TAS jedenfalls: NDR-Kultmoderator und Schirmherr Carlo von Tiedemann. Der 80-Jährige engagiert sich schon seit vielen Jahren für die Obdachlosenhilfe in Norderstedt. Er findet, die Zeit des Gebäudes, des „Provisoriums“, wie er es nennt, ist abgelaufen. „Die Jungs und Mädels dort haben furchtbare Angst vor Morgen. Jeder Tag ist ein erneuter Kampf für sie. Diesen Menschen muss unbedingt geholfen werden“, sagt von Tiedemann.
TAS-Neubau sollte bestenfalls 2024 stehen
Wenn er im Nachhinein höre, dass die Stadt das Geld stattdessen lieber in einen neuen Radfahrweg investiert hat, würde er die „Krätze kriegen“, sagt er. Ein Neubau der Tagesaufenthaltsstätte sei wichtiger. „Wir alle können Leben retten.“
Wie es mit der TAS weitergeht, sollte sich die Politik gegen einen weiteren Zuschuss aussprechen, weiß Andrea Makies noch nicht. „Jetzt versuchen wir erst einmal, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das Projekt zu realisieren“, sagt sie. Geplant ist, noch 2023 mit den vorbereitenden Erdarbeiten zu beginnen. Der Bau der neuen TAS, leicht versetzt von der alten, soll starten, wenn die Finanzierung geklärt ist. Bestenfalls soll der Neubau schon Mitte 2024 am Lütjenmoor stehen.