Seedorf. Wilhelm Krützfeld stammt aus dem kleinen Berlin im Kreis Segeberg. Wie es ihm 1938 im großen Berlin gelang, Nazis in Schach zu hakten.

  • 9. November 1938: Menschenmenge vor größter Berliner Synagoge
  • Propagandaminister Joseph Goebbels tobt am Telefon
  • Polizeioffizier aus Berlin im Kreis Segeberg wird zum Helden

„Der 9. November 1938 in Berlin: Hundert Meter von der Reichskanzlei, vom Reichspropagandaministerium entfernt, steht die Synagoge. Brennt die Synagoge? Nein, sie brennt nicht, ein kleines Feuer wird gelöscht, die Polizei drängt den Pöbel zurück, drängt sogar SA-Männer in ihren Uniformen zurück. Minister Joseph Goebbels tobt am Telefon. Was ist passiert?

Ein Mann hat es verhindert, Wilhelm Krützfeld, ein Polizeioffizier. Der wird herbeigerufen, eine Menschenmenge habe sich vor der Synagoge an der Oranienburger Straße versammelt, randaliere, werfe Scheiben ein, habe Gebetsbücher auf die Straße geworfen. „Der Mann Krützfeld kommt und gibt den Befehl, die Synagoge und die darin Weilenden zu schützen, lässt den Pöbel zurückdrängen, lässt das Feuer löschen. Der Mann Krützfeld schreitet ein.“

So beschreibt der Schriftsteller Uwe Timm in seinem bekannten Roman „Rot“ aus dem Jahre 2001 die dramatischen Stunden damals. Wenige Zeilen später heißt es: „Ein Mann, der nicht wegschaut, der Nein sagt, dessen Name ich nochmals nenne, damit er nicht vergessen wird, Krützfeld.“

9. November: Im kleinen Berlin erinnert ein Gedenkstein an den Helden

Wilhelm Krützfeld war Polizist in Berlin, geboren wurde er im Kreis Segeberg. Ohne ihn hätte die größte Synagoge in Berlin 1938 gebrannt.
Wilhelm Krützfeld war Polizist in Berlin, geboren wurde er im Kreis Segeberg. Ohne ihn hätte die größte Synagoge in Berlin 1938 gebrannt. © HA

Wer also ist dieser Mann, Wilhelm Krützfeld, dem auf dem Potsdamer Platz in Berlin ein Gedenkstein gewidmet ist? Nicht in der Bundeshauptstadt, sondern im kleinen, viel älteren Berlin im Kreis Segeberg, einem Ortsteil der Gemeinde Seedorf. In Hornsdorf, einem anderen Ortsteil von Seedorf, wurde der später als Held verehrte Mann am 9. Dezember 1880 geboren, im großen Berlin verstarb er am 31. Oktober 1953 – nicht vergessen, sondern hoch geachtet.

Die Stadt Berlin widmete ihm ein Ehrengrab, und die Bronzetafel an der Wand neben der Synagoge an der Oranienburger Straße erinnert an seine Tat, die ihn zu einem Helden in Zeiten des Duckmäusertums gemacht hat: „Der Berliner Polizeibeamte Wilhelm Krützfeld (1880-1953) bewahrte in der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 durch mutiges und entschlossenes Eingreifen diese Synagoge vor Zerstörung.“

Gesetz und Ordnung verteidigt: Wilhelm Krützfeld berief sich auf das Wort des Kaisers

Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin.
Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin. © dpa | Jens Kalaene

Der Geehrte hat getan, wofür er stand: Er hat Gesetz und Ordnung verteidigt und sich gegen den Bruch des Rechts gestellt. Heute eine Selbstverständlichkeit, aber 1938 waren es eben andere Zeiten. Da erforderte es viel Mut, sich gegen die Obrigkeit zu stellen und damit womöglich seine berufliche Stellung oder sogar sein Leben und das seiner Familie zu riskieren. Zivilcourage und gesunder Menschenverstand wird das genannt.

Gedenken an die Reichspogromnacht

Bis 1. Dezember, Christuskirche Norderstedt, Kirchenstraße 12: Ausstellung Aschkenas – Jüdisches Leben in Deutschland. Zu sehen dienstags 16 bis 18 Uhr sowie mittwochs bis freitags von 10 bis 12 Uhr zu sehen. Es findet ein Begleitprogramm zur Ausstellung statt.

Donnerstag, 7. November, bis 30. November, Rathaus Norderstedt, Rathausallee 50: Ausstellung Auftakt des Terrors. Die Schau beleuchtet an elf Stationen Rolle und Funktion der frühen Lager im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Zu sehen täglich zu den Rathaus-Öffnungszeiten des Rathauses.

Sonnabend, 9. November, 15 Uhr, KZ-Gedenkstätte Wittmoor, Fuchsmoorweg: Gedenkstunde mit Kranzniederlegung. Die Gedenkzeit ist öffentlich, die Durchfahrt zur Gedenkstätte ist erlaubt.

Bad Segeberg: Öffentliche Kranzniederlegung zur Pogromnacht am 9. November 2024 um 17 Uhr am Gedenkort Alte Synagoge an der Lübecker Straße 2.

Sonntag, 10. November, 19 Uhr, Norderstedt: „Mayne Verter zaynen Trern“ – „Meine Wörter, die sind Tränen“: Der Kulturtreff Norderstedt erinnert an die grauenvolle Nacht, in der das NS-Regime Jüdinnen und Juden verfolgte, entwürdigte und ermordete, mit einem Konzert des Hamburger Quartetts A Mekhaye im Gemeindezentrum der Paul-Gerhardt-Kirche am Alten Buckhörner Moor 16. Karten zu 15 Euro unter Telefon 040/60925103, reservierung@kulturtreff-norderstedt.de und an der Abendkasse.

Dienstag, 12. November, 20 Uhr, singt und spielt Naama Guggenheim im Kulturwerk. Die Singer-Songwriterin und Gitarristin mit der souligen Stimme bringt Jonathan Haringman an Keys und Computer und Shalev Vered am Schlagzeug mit. Veranstalterinnen sind das Blueswerk Norderstedt, der Norderstedter Kulturverein „Chaverim – Freundschaft mit Israel“ und die Israelische Botschaft Berlin. Karten zu 25 Euro gibt es im Ticket-Corner im Brauhaus Hopfenliebe, unter vorverkauf@meno-gmbh.de, 040/30987123 und an der Abendkasse.

Sonnabend, 30. November, 19 Uhr, Christuskirche Garstedt, Kirchenstraße 12, Norderstedt: Das Duo Mandos & Kaatz gibt ein Konzert mit traditionellen jiddischen Liedern und Balladen aschkenasischer Juden. lin

Die Synagoge an der Oranienburger Straße stach mit ihrer vergoldeten Kuppel hervor – sie war Symbol des jüdischen Lebens in Berlin. Für die Nationalsozialisten war sie von hohem symbolischen Wert. Mehr als andere Synagogen, die in jener Nacht brannten. Die Feuerwehren hatten den Befehl, nicht auszurücken, um brennende Synagogen zu löschen. Aber ausgerechnet diese Synagoge stand am nächsten Morgen noch. Beschädigt, aber erhalten. Wilhelm Krützfeld und ein ihm untergebener Beamter namens Otto Bellgardt haben es verhindert. Die Nazis beriefen sich auf Adolf Hitler, Krützfeld auf den Denkmalsschutz und das Wort Kaiser Wilhelms.

9. November 1938: Zwei Männer zwangen die SA zum Rückzug

Das Dokument über die Schutzwürdigkeit des Gebäudes hatte er in der Manteltasche, die Pistole in der Hand, als er den SA-Männern gegenübertrat. Er erzwang zusammen mit Otto Bellgardt ihren Rückzug und beorderte die Feuerwehr zur Synagoge.

Wer war Wilhelm Krützfeld? Er diente bis 1907 in der Preußischen Armee bei der Garde in Spandau und wurde dann Polizist. Nach längerem Dienst im Landespolizeiamt und im Berliner Polizeipräsidium übernahm er in den 1930er-Jahren das Polizeirevier 65 am Prenzlauer Berg und leitete 1938 als Polizeioberleutnant das Polizeirevier 16 am Hackeschen Markt im Bezirk Mitte. Zu seinem Revier gehörte auch die Oranienburger Straße bis zur heutigen Tucholskystraße – und damit der Block mit der neuen, im Jahr 1886 erbauten Synagoge, die als eine der schönsten in Deutschland galt.

Wilhelm Krützfeld war kein heroischer Antifaschist – er war preußischer Beamter

Wilhelm Krützfeld ist ein Beispiel dafür, dass man auch im Alltag dem nationalsozialistischen Wahnsinn etwas entgegensetzen konnte.
Wilhelm Krützfeld ist ein Beispiel dafür, dass man auch im Alltag dem nationalsozialistischen Wahnsinn etwas entgegensetzen konnte. © HA

Wilhelm Krützfeld war kein heroischer Antifaschist, er war preußischer Staatsbeamter. Aber er ist ein Beispiel dafür, dass man auch im Alltag dem nationalsozialistischen Wahnsinn etwas entgegensetzen konnte. Auch das ist erstaunlich: Die Tat hatte für ihn kein Nachspiel. Obwohl bekannt war, dass er als Revierleiter verantwortlich für das Zurückdrängen der SA-Männer war, blieb er im Amt.

Am nächsten Tag wurde er von Polizeipräsident Wolf Heinrich Graf von Helldorf zum Rapport einbestellt und ermahnt. Mehr passierte nicht. Wohl auch deshalb, weil der Polizeipräsident ein heimlicher, aber aktiver Regime-Gegner war. Graf Helldorf wurde 1944 als Mitverschwörer beim Hitler-Attentat hingerichtet. Erst zwei Jahre später wurde Krützfeld versetzt, weitere drei Jahre danach ging er freiwillig in den Ruhestand.

Vielleicht hätte heute niemand etwas über das Leben und Wirken von Wilhelm Krützfeld erfahren und gewusst, wenn ihm nicht der Schriftsteller Heinz Knobloch ein literarisches Denkmal gesetzt hätte. In seinem Buch „Der beherzte Reviervorsteher“ beschrieb er das Leben und Wirken des Polizeibeamten.

Der Beamte Krützfeld warnte Juden vor der Deportation

Danach war die Rettung der Synagoge nicht Krützfelds einzige Aktion zur Rettung von Juden in seinem Revier. Wenn er Verwaltungslisten von Juden erhalten hatte, habe er sie vor Durchsuchungen gewarnt. Zudem sei er vorzeitig in Pension gegangen, weil er ahnte, dass die Berliner Polizei Beihilfe leisten sollte bei der Deportation von Juden, schreibt Knobloch.

Diese Gedenktafel hängt am Gebäude der Synagoge an der Oranienburger Straße 28 in Berlin-Mitte.
Diese Gedenktafel hängt am Gebäude der Synagoge an der Oranienburger Straße 28 in Berlin-Mitte. © HA

Nach Kriegsende trat Krützfeld 1945 wieder in den Polizeidienst ein und half beim Aufbau der Berliner Polizei. 1947 leitete er die neue Inspektion im sowjetischen Sektor der Stadt. 40 Jahre nach seinem Tod ehrte ihn die Landespolizei Schleswig-Holstein. Sie benannte die Landespolizeischule Schule in Eutin-Kiebitzhörn nach ihm. Dort gibt es sogar eine Dauerausstellung: Sechs große Schautafeln, auf denen das Leben und Wirken von Wilhelm Krützfeld dargestellt wird, hängen in einem Flur der Polizeischule.

2008 wurde im kleinen Berlin im Kreis Segeberg der Gedenkstein auf dem Potsdamer Platz aufgestellt. Wilhelm Krützfeld war verheiratet und hatte zwei Söhne.