Kreis Segeberg. Kindeswohlgefährdung nimmt drastisch zu – und das Hilfesystem ächzt im Krisenmodus und leidet unter Versagensangst.

Was das ganz konkret bedeutet, wenn Jugendhilfe im Kreis Segeberg an seine Belastungsgrenzen stößt, das erklärt Andrea Terschüren an einem aktuellen Beispiel aus Kaltenkirchen. „Da stellte uns ein Träger ein 13-jähriges Mädchen am Freitagnachmittag vor die Tür der Beratungsstelle und erklärte die Maßnahme für beendet“, sagt die Leiterin des Jugendamtes des Kreises Segeberg.

Die pubertäre Jugendliche aus problematischen Familienverhältnissen hatte die Betreuer*innen offenbar derart überfordert, dass diese nicht mehr imstande waren, den Fall weiter zu übernehmen. Wohl auch, weil ihre Kapazitäten noch für viele weitere Kinder und Jugendliche ausreichen mussten.

Jugendhilfe: Kinder erleben, dass niemand sie haben will

„Da hast du dann ein Mädchen mit herausforderndem Verhalten, das frech ist, widerborstig, das sich ausprobieren möchte beim Überschreiten von Grenzen und sich nicht an Regeln halten will – und musst es kurz vor dem Wochenende unterbringen“, sagt Terschüren.

Eine Mitarbeiterin hängte sich ans Telefon. Klapperte 50 Einrichtungen in der Region und darüber hinaus ab, um einen Platz für die 13-Jährige zu finden. Und holte sich 50 Absagen. „Gut, dass ich noch Glück hatte und über private Kontakte zu Einrichtungen in weiterer Entfernung eine Lösung organisieren konnte“, sagt Terschüren.

Film Systemsprenger: Die Realität sieht kaum anders aus

Und das Mädchen? Es erlebte abermals, dass es nicht gewollt, dass es nicht gemocht wird. Spürte erneut die bodenlose Unsicherheit in seinem Leben, das ihm noch nicht mal eine warme Unterkunft garantiert. „Diese Kinder provozieren, weil sie ja gerade erleben wollen, dass sie gemocht werden. Sie haben ein extremes Kontinuitätsbedürfnis“, sagt Terschüren. „Wir sorgen in unserem wackeligen Jugendhilfe-System aber noch für weitere Bindungsirritationen – und produzieren dadurch noch mehr Systemsprenger!“

Systemsprenger – jene vermeintlich für alle Therapien und Hilfsangebote unerreichbaren Kinder und Jugendlichen, die so viel Mist in ihrem Leben hinter sich haben, dass sie sich in die totale Konfrontation gegen alles und jeden zurückziehen. Einem breiten deutschen Publikum ist dieses Phänomen seit dem gleichnamigen Film von Regisseurin Nora Fingscheidt aus dem Jahr 2019 bekannt.

Sozialarbeiter*innen leiden unter Belastung

Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt im Kreis Segeberg stark an.
Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt im Kreis Segeberg stark an. © dpa | Jan Woitas

Andrea Terschüren betont, dass die Krise der Jugendhilfe kein exklusives Problem des Kreises Segeberg ist. Es ist ein Problem des ganzen Landes. So wie im Kreis sehe es in unzähligen anderen Städten, Kommunen und Gebietskörperschaften in Deutschland aus. Immer mehr Fälle, immer krassere Schicksale, immer mehr Belastungsanzeigen aufgrund psychischer oder körperlicher Probleme bei den Sozialarbeitenden des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) – und die beständige Angst bei ihnen, dass Gefährdungsrisiken falsch eingeschätzt werden und Kinder und Jugendliche in existenzielle Not geraten.

„Wir tun alles dafür, dass so etwas nicht passiert“, sagt Terschüren. Aber „alles“ – das ist derzeit eben der Krisenmodus, die Mangelverwaltung, das Bekämpfen der Symptome, nicht aber der Ursachen. „Wir müssen schauen, dass wir vor die Welle kommen.“

Keine Fachkräfte, keine Therapeuten, keine Unterbringungsplätze

Die Fallzahlen kennzeichnen diese „Welle“. Die Menge der akuten Kindeswohlgefährdungen im Kreis Segeberg haben sich massiv potenziert. Waren es in den vergangenen Jahren mal 38 oder 47 Fälle, so verzeichnet das Jugendamt allein zum Stichtag 30. Juni in diesem Jahr schon 95 Fälle.

95 Minderjährige, für die eine Welt – und sei es eine kaputte – zusammenbricht und die aufgefangen werden von einem System, in dem immer weniger Fachkräfte sich ihrer annehmen können, in dem immer weniger Kinderärzt*innen oder Psychotherapeut*innen Termine für sie haben, in dem es immer weniger Unterkünfte für sie gibt und in dem es zwar gute Gesetze gibt, aber immer weniger Zeit und Geld, um die nötigen Schritte zu unternehmen, um sie einzuhalten.

Für Prävention vor der Eskalation bleibt zu wenig Zeit

Andrea Terschüren, Leiterin des Fachbereiches Jugend und Bildung beim Kreis Segeberg.
Andrea Terschüren, Leiterin des Fachbereiches Jugend und Bildung beim Kreis Segeberg. © Kreis Segeberg | Sabrina Müller

„Wir bekommen die Kinder zu spät, wenn sie sprichwörtlich schon in den Brunnen gefallen sind. Aber wir haben zu wenig Zeit vor der Eskalation die Prävention aufzubauen, mehr auf Beratung zu setzen und das integrierende Aufwachsen“, sagt Terschüren. Also da zu sein, bevor Familien in die Problemspirale kommen.

Alles ganz schrecklich, alles sinnlos, alles verloren, wir können nichts mehr tun? „Gegen diese Sicht der Dinge wehre ich mich mit Händen und Füßen“, sagt Terschüren. Das tut sie, weil sie davon überzeugt ist, dass man die Dinge besser machen kann. Zutrauen geben ihr die „hoch motivierten Kolleginnen und Kollegen“, die trotz aller Widrigkeiten ihren Job ja auch lieben. Das gelte im Übrigen auch für all jene Leute, die bei den Trägern der Jugendhilfe „an der Front“ wirken.

Aktionsplan für den Kreis Segeberg – und jede Menge Selbstkritik

Zutrauen gibt ihr aber auch ihr Dienstherr, Landrat Jan Peter Schröder, der sagt: „Das Wohl der Kinder hat für uns stets an erster Stelle zu stehen. Punkt.“ Außerdem erfahre sie viel Unterstützung von der Kommunalpolitik. „Da sind wir im Kreis Segeberg wirklich weiter als andere“, sagt Terschüren.

„Die Frage ist, wie wir uns aus der Negativspirale rausholen“, sagt Andrea Terschüren. Am Anfang stehe die Selbstkritik. Alle Denkverbote auszusetzen, die Strukturen auf den Kopf zu stellen.

Herausgekommen sei dabei ein „Aktionsplan“ für die Jugendhilfe im Kreis Segeberg, sagt Terschüren. Im Kern gehe es dabei um die „Verdichtung der Truppe“, das Bilden von Sondereinheiten. Es soll immer gewährleistet sein, dass Kolleg*innen in den Dienststellen nicht alleine mit Fällen und Entscheidungen konfrontiert sind. Das Vier-Augen-Prinzip als unbedingt nötiges Sicherheitsprinzip soll kategorisch gelten.

Kleinere Einheiten und das Vier-Augen-Prinzip

Die betroffenen Kinder und Jugendlichen würden im Hilfesystem erleben, das niemand sie will und dass sie nicht gemocht werden.
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen würden im Hilfesystem erleben, das niemand sie will und dass sie nicht gemocht werden. © dpa | Annette Riedl

Die enormen Belastungen und „andauernden Drucksituationen“ sollen so für die Kolleg*innen abgebaut werden. Wichtigstes Ziel sei es, den sensiblen Kinderschutzbereich stets genau im Blick zu behalten. „Das gesamte System bedarf einer Behandlung gegen Fehleranfälligkeit“, sagt Landrat Schröder. „Ganz genau hinsehen, gezielt nachbohren und wo erforderlich hinreichend früh eingreifen.“

In der Struktur bedeutet die Neuausrichtung, dass im Kreis die bisherigen sechs Dienststellen des ASD auf vier reduziert werden – in Bad Segeberg, Bornhöved, Kaltenkirchen und Henstedt-Ulzburg. In nicht allzu ferner Zukunft soll die sogenannte „aufsuchende Arbeit“ ausgebaut werden. Dabei gehen Jugendamt-Mitarbeitende mit ihrem Angebot aktiv dorthin, wo sich Kinder, Jugendliche und Eltern aufhalten und werden dadurch nah- und ansprechbarer. Zudem hat jede der Dienststellen nun eine eigene Leitung in Vollzeit, die als Ansprechperson permanent zur Verfügung steht.

„Und wir brauchen eine bessere Ausbildung und Fortbildung der Mitarbeiter*innen“, sagt Terschüren. „Von den Unis kommen zum Teil zu viele Leute mit romantischen Vorstellungen von der Arbeit.“ Kinderschutz spiele in der Lehre an den Hochschulen nur eine Nebenrolle.

Jugendhilfe: Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg

Wenn sich Terschüren etwa aussuchen dürfte, dann würde sie sich auch gerne ein schönes Haus für die zentrale Unterbringung von Kinder und Jugendlichen in Not im Kreis Segeberg bauen. „Wir hinterfragen wirklich alle Strukturen und werden das in Zukunft Stück für Stück der Politik vorstellen.“

Bei der Unterbringung müsse man sich auch fragen, wie hoch eigentlich der Anteil der Fälle aus Schleswig-Holstein in den infrage kommenden Einrichtungen ist. Und schauen, inwiefern es da ein Ungleichgewicht in der länderübergreifenden Verteilung der Fälle gebe. Zusammenarbeit, über Ländergrenzen hinweg, zwischen Institutionen wie Jugendamt, Polizei und Politik sei in Zeiten knapper Ressourcen unabdingbar.

„Kinder sind unsere Zukunft, und sie haben es verdient, geschützt und beschützt aufzuwachsen“, sagt Landrat Schröder. Das zu gewährleisten, wird eine immer schwierigere Aufgabe für den Staat.