Kreis Segeberg. Die Regisseurin Andrea Rothenburg gibt mit ihren Psychiatrie-Filmen Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörigen eine Stimme.

„Wenn ein Mensch psychisch erkrankt, ist das mit seiner Lebensgeschichte verknüpft. Diese Geschichten sind besondere Geschichten, die gehört werden wollen.“ O-Ton Andrea Rothenburg. Die Regisseurin und Produzentin erzählt diese Geschichten. Seit mehr als 23 Jahren. Und gibt so Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörigen eine Stimme.

Mit ihrem Unternehmen Psychiatrie-Filme dreht die 49-Jährige, die auch Vorsitzende des Vereins Psychiatrie in Bewegung e.V. ist, Filme und Dokumentationen zum Thema. Die zeigt Andrea Rothenburg unter anderem im Fernsehen, in Kinos, bei Ausstellungen, Podiumsdiskussionen, auf Fortbildungs- und Schulveranstaltungen.

Psycische Erkrankungen: Wenn Menschen ihr Leben nicht mehr aushalten können

Ich treffe sie in ihrem Zuhause in Negernbötel im Kreis Segeberg. Vor mir steht eine Frau mit langen dunklen Haaren, einem offenen attraktiven Gesicht und sensiblen braunen Augen. Ich möchte Andrea Rothenburgs Motiv verstehen, das sie antreibt, mit der Kamera in die Psyche der Menschen einzutauchen, umfassend über die Krankheitsbilder aufzuklären, Mut zu machen und Betroffene, Angehörige und Experten miteinander zu vernetzen.

Dazu werfen wir zunächst einen Blick zurück.

Andrea Rothenburg: Prägende Erfahrungen während eines Praktikums

Andrea Rothenburg ist fünf Jahre alt, als ihr Vater, Chefarzt und Psychiater am Psychiatrischen Zentrum in Rickling, sie erstmals mit in die Klinik nimmt. Dort fühlt sie sich gleich wohl, denn: „Hier habe ich Menschen ohne Maske getroffen. Sie waren total offen und mit Tiefgang“, sagt sie.

Welche Begegnung ist ihr nachhaltig in Erinnerung geblieben? „Das war während meines Praktikums im Reha- und Pflegebereich der Psychiatrie in Rickling. Hier begegnete ich einer schwerkranken Frau, die lebte ganz in ihrer eigenen Welt. Sie war Prinzessin, und wir waren ihre Untertanen. Sie stellte sich mit mir vor den Spiegel, legte ihren Arm um mich und sagte: ‚Wir sind beide schön.‘ Doch schön war sie nicht. Alt, krank, mit fettigen Haaren. Aber dieser Moment hat mich total berührt.“

Sie erinnere sich auch gut an den Bruder einer Freundin, der stark drogenabhängig war. „Zu sehen, wie sich ein Mensch verändert, hat mich betroffen gemacht. Er hat lange gekämpft und sich vor einem Jahr das Leben genommen.“

Das erste Interview in der Psychiatrie

Das sind zwei von zahlreichen Schlüsselmomenten, in denen Andrea Rothenburgs Wunsch immer stärker wird, sich für psychisch Erkrankte und deren Angehörige einzusetzen und ihnen öffentlich eine Stimme zu geben. Nach Jobs am Theater und abgeschlossenem Studium an Drehbuchschule und Filmakademie wagt sie sich mutig ran an das erste Interview mit Mikro in der Psychiatrie:

„Ich sprach mit einem cannabisabhängigen jungen Mann. Er hatte Wahnvorstellungen und dachte, er würde abgehört. Er war so dankbar, dass einer zu ihm kommt und fragt: Wie geht’s dir eigentlich?“ Das Gespräch beseelt sie so sehr, dass sie ein kleines Theaterstück daraus schreibt, mit dem sie bei einem Literaturwettbewerb gewinnt.

„Wenn ich was bewegen will, muss ich selbst bewegt sein von der Geschichte“

Der junge Mann hat es nicht geschafft. Auch er ist an seiner Sucht gestorben. Andrea Rothenburgs Stimme stockt. Sie schämt sich ihrer Tränen nicht. „Das muss ich aushalten“, sagt sie. Denn sie weiß: „Wenn ich was bewegen will, muss ich selbst bewegt sein von der Geschichte.“ Kraft und Antrieb geben ihr bei ihrer Arbeit vor allem die Lebensgeschichten, die gut ausgehen und zeigen: Es kann einen Weg zurück in die Gesundung geben.

Besonders bewegt habe sie auch der Germanwings Absturz im März 2015. Der unter Depressionen leidende Pilot steuerte das Flugzeug in den südfranzösischen Alpen vorsätzlich gegen einen Berg, um auf diese Weise Suizid begehen zu können. Alle 150 Insassen kamen dabei ums Leben. Das habe sie damals sehr nachdenklich gemacht.

„Ich hatte das Gefühl: Oh Gott, diese wirklich anstrengende aufklärende Antistigma-Arbeit hat nichts gebracht, weil die Leute jetzt so dolle Vorurteile haben oder auch Wut auf Menschen mit Depression. Gleichzeitig habe ich gedacht, vielleicht muss ich meinen Anspruch, ganz vieles bewirken zu wollen, runterschrauben und sagen: Ich mache Filme vor allem ja auch, um neben den Betroffenen die Angehörigen und Fachleute zu unterstützen. Ich bin der Überzeugung, dass wir als Gesellschaft viel selbstverständlicher auf das Thema psychische Erkrankung schauen sollten“, sagt Andrea Rothenburg. „Und auch die Medien normaler damit umgehen und den Geschichten mehr Raum lassen, die positiv ausgehen, also Hoffnung und Mut machen, und nicht noch Ängste triggern.“

Unterstützung der Angehörigen ist wichtig

Bei Filmpremieren oder Informationsveranstaltungen seien Erfahrungsexperten und Protagonisten aus den Filmen häufig mit anwesend. So entstehe oft eine Verschmelzung zwischen dem Podium und den Zuschauern.

Andrea Rothenburg: „Das sind die Momente, in denen ich weiß, wofür ich das tue, was ich tue. Vor allem, wenn einsame Menschen unsere Veranstaltungen besuchen, auf einmal Kontakte knüpfen. Sie beispielsweise in eine Selbsthilfegruppe eintreten wollen und so wieder Antrieb spüren, dann ist das total schön. Ich selbst fühle in diesen Momenten so viel Dankbarkeit und Liebe und mich bestätigt, dass meine Arbeit Sinn macht.“

Grüne Schleife: Ein Zeichen für Akzeptanz und gegen Ausgrenzung

Wir sprechen über das von Andrea Rothenburg produzierte Musikvideo ‚Hier ist was in Bewegung‘. Darin zeigen Betroffene und (prominente) Unterstützer ihr Gesicht. Sie alle tragen an ihrer Brust eine grüne Schleife. „Ich finde, sie ist ein schönes Symbol für eine Gesellschaft, die offen und tolerant mit psychischen Erkrankungen umgeht“, sagt Andrea Rothenburg. Jeder, der die Grüne Schleife trägt, setze ein Zeichen für Akzeptanz und gegen Ausgrenzung.

Blicken wir mal zu den Kindern in unserer Gesellschaft. Für sie sollte, so Andrea Rothenburg, das Thema „seelische Gesundheit“ auf dem Lehrplan stehen. „Eine Stunde pro Woche mit dem Ziel, junge Menschen stark zu machen. Man weiß doch, dass Kinder viel besser arbeiten können, wenn es ihnen gut geht. So ein Fach könnte Themen wie Mobbing enthalten. Ich kenne so viele junge Menschen, die durch Mobbing sehr krank geworden sind. In unserem Verein Psychiatrie in Bewegung gibt es eine Frau, die regelmäßig in die Schulen geht und erzählt, was es mit ihr gemacht hat. Und da ist immer eine ganz große Betroffenheit und Wissbegierde“, sagt Andrea Rothenburg.

„Meiner Meinung nach gehört in jede Psychiatrie ein Spielplatz“

Auch die etwa vier Millionen Kinder psychisch erkrankter Eltern in Deutschland haben nur wenige im Blick. „Wir gehen mit unserem Verein deshalb gezielt in Kliniken und sensibilisieren das Personal, sind bei Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen dabei“, sagt die Regisseurin. „Meiner Meinung nach gehört in jede Psychiatrie ein Spielplatz, auf dem sich Kinder mit dem gleichen Schicksal treffen und spüren: Ich bin nicht allein.“

Auch aus diesem Grund ist Andrea Rothenburgs filmischer Fokus aktuell auf die jungen Menschen unter uns gerichtet. „Das nächste Filmprojekt ‚Hört uns zu! – Psychische Krisen bei Jugendlichen‘ produzieren wir, damit krisenerfahrene Jugendliche anderen Jugendlichen und ihrem Umfeld wichtige Tipps geben und aufklären. Ergänzend arbeiten wir noch an dem filmischen Theaterstück „Grauzone“, das zur Suizidprävention bei Jugendlichen beiträgt.“

Vielen hilft es schon, über ihre Erkrankung zu sprechen

Ob Jung oder Alt: „Vielen Betroffenen hilft es schon, darüber zu sprechen, dass sie ihr Leben nicht mehr aushalten können, und warum das so ist“, sagt Andrea Rothenburg abschließend. „Und wenn sie spüren, da ist jemand, der hört mir zu und nimmt mich an die Hand, dann hilft das häufig schon.“

Wichtige Links zum Thema und aktuelle Filme von Andrea Rothenburg:

https://psychiatriefilme.de/i/neue-filme

https://www.youtube.com/watch?v=hHajJsSf5H8

https://www.psychiatrie-in-bewegung.de

https://www.seelischegesundheit.net/aktionen/grueneschleife/