Norderstedt. Teenager in Norderstedt erfahren, wie schnell sie in Extremismus abrutschen. Das Planspiel nimmt ein überraschendes Ende.
Der Blick der Anführerin ist streng, die Gesten fordernd: Permanent wird die Gruppe Jugendlicher unter Stress gesetzt, sie müssen unter Zeitdruck existenzielle Entscheidungen treffen. Und alles für ein Ziel: Sie wollen 500 Euro gewinnen. Oder sie glauben zumindest, dass diese stattliche Summe tatsächlich zu bekommen ist. Die Teenager sind mittendrin in den „X Games“, einem Planspiel, das in Norderstedt mit Heranwachsenden der Gemeinschaftsschule Friedrichsgabe gespielt wurde. Und das ein überraschendes, unbefriedigendes, aber dann doch irgendwie unvermeidliches Ende nimmt.
„Chaos stiften, um Lösungen anzubieten.“ Darum gehe es bei den „X Games“ sagt Alexej Boris. Der Schauspieler und Theaterpädagoge ist Gründer von „Inside Out“, der Organisation hinter dem Spiel. Die Mission: Junge Menschen sollen erleben, wie schnell es gehen kann mit der Radikalisierung und dem Abdriften in Extremismus. Boris arbeitet zusammen mit der Theologin Hayrunnisa Aslan im Jugendzentrum „Jumi“. Und sie wissen ganz genau, was sie tun.
Norderstedt: Jugendgruppen im Kampf um 500 Euro – beide gehen leer aus
„Das Ziel ist die Nachbesprechung, nicht das Spiel an sich. Was wir vorher nicht erlebt haben, können wir nicht nachher besprechen. Wir haben das über 600-mal gespielt, mit Erwachsenen, in verschiedenen Ländern – alle reagieren gleich.“ Aslan fragt die Jugendlichen am Eingang: „Weiß jemand, was wir heute machen?“ Ratlose Gesichter. „Perfekt. Wir führen mit euch ein Experiment durch. Es ist wichtig, dass ihr bis zum Schluss mitmacht. Schafft ihr das?“
In die Köpfe von Heranwachsenden zu gelangen, ist für Erwachsene nicht einfach. Aber vielleicht gibt es hier einen Ansatz. „Eure Namen könnt ihr für 1,5 Stunden vergessen.“ Es gibt Nummern und Buchstaben, dazu einheitliche Westen. Boris und Aslan tragen jeweils weiße Kittel, die Autorität ausstrahlen. Ob das an irgendetwas erinnert? Später mehr dazu.
Jugendlichen bewusst ausgewählt – auch schwierige Charaktere dabei
Die offene Kinder- und Jugendarbeit der Stadt hatte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Kooperation mit der Schulsozialarbeit in Friedrichsgabe bewusst ausgewählt. Ein paar schwierige Charaktere sind darunter, auch solche, die bereits straffällig geworden sind. Alle sind zwischen 15 und 17 Jahre alt.
Was es zu verlieren gibt? „Punkte, die Ehre, das Leben“, sagt Alexej Boris. Aufgeblasene Luftballons symbolisieren das. Platzt dieser, ist das gleichbedeutend mit dem Tod. Auf dem Weg dorthin müssen die Gruppen moralisch anspruchsvolle Fragen ausdiskutieren. So wie diese: Ein Mann kommt zu einem Zahnarzt, bittet um Behandlung. Und kündigt an, seiner Ehefrau danach etwas Schlimmes antun zu wollen. Das wäre nur noch zu verhindern, wenn der Mediziner dem Patienten bewusst eine Überdosis verpasst. Wäre das gerechtfertigt?
Durch Folter herausfinden, wo ein Terrorist die Bombe versteckt hat?
Oder ein anderes Szenario: „Ihr seid Polizist in Norderstedt. In eurer Stadt hat ein Terrorist eine Bombe versteckt. Ihr habt zwei Stunden Zeit, um es herauszufinden: Wo könnte der Sprengsatz sein, Schule, Krankenhaus, Bahnhof?“ Hayrunnisa Aslan schaut in die Gesichter. In der Hand hält sie übrigens genau jenen Koffer, in dem sich das begehrte Preisgeld befindet.
Ein Weg, um die Bombe zu finden: Den zehnjährigen Sohn des Terroristen foltern. „Finger brechen ist viel besser“, sagt einer – also im Vergleich zu vielen Bombentoten. „Bei Gott, du hast kein Herz“, antwortet ein Mädchen. Und auch das wird gefragt: Sollte ein heruntergekommener Mann, ein gesuchter Kinderschänder obendrauf, geopfert werden, von einer Brücke geworfen, um am Boden Menschen vor einem herannahenden Zug zu warnen? „Er ist sowieso alt!“, „Er ist sozialer Abschaum!“ – die Meinung ist eindeutig.
Die Verwirrung, auch die Aufregung, wächst. Immer wieder verteilt Aslan hier und da Punkte, alles ist sehr willkürlich. Vor dem Jugendzentrum treffen die Gruppen aufeinander. In einer Variante von „Schiffe versenken“ soll eine Seite die andere besiegen. So kommt es auch.
Aber zu welchem Zweck, fragen sie sich. Aslan und Boris rufen alle zusammen, rechnen die Ergebnisse hoch. „F“ hat einen besseren Punktestand als „C“. Und was passiert? Beide gehen leer aus. „Die Gewinner sind diejenigen, die mit euch gespielt haben.“ Aslan zeigt die Geldscheine demonstrativ in die Runde und steckt sie weg. Ungläubig gucken die Jugendlichen, zwei Jungs gehen schimpfend weg, werden nicht mehr gesehen.
„Am Ende jeder Radikalisierung stehen Knast oder Tod“
Alexej Boris erklärt, was diese Pointe sollte. „Das Ziel ist, dass sie enttäuscht sind. Am Ende jeder Radikalisierung stehen Knast oder Tod.“ Die vermeintlichen Anführer haben die Mitläufer betrogen und ausgenutzt, in dem sie diese aufgehetzt und aufeinander gejagt haben – was eine treffende Analogie zu einem Krieg darstellt oder zur Rekrutierung durch Terrororganisationen.
„Die 500 Euro landen immer wieder im Koffer. Wir haben eine Rolle gespielt, genauso wie ihr.“ Es habe zwei Ebenen gegeben: Das Spiel an sich, und „die Tricks, um euch dorthin zu bringen, wo die weißen Kutten euch haben wollen“. Was sie auch verraten: Es gab jeweils Spione, die sich nun zu erkennen geben. „Auch das war eine Rolle, diese hatten die Aufgabe, für Durcheinander zu sorgen.“ Der Grund: Sollte sich eine Gruppe zu sehr einig sein, wäre es schwieriger für die Führung, die Kontrolle zu wahren. Anders ist es, wenn permanente Unruhe herrscht.
Mit 15 Jahren trug Ziad seine erste Waffe
Eine Woche später, am gleichen Ort: Ziad Saab und Christina Foerch sind im „Jumi“. Das Ehepaar ist von den Fighters for Peace, einer Organisation aus dem Libanon. Saab (65) war einst Soldat, er hat im Bürgerkrieg gekämpft, und das schon als Teenager. Und er spricht Arabisch, so wie einige der Jugendlichen aus Norderstedt. Gerade für die männlichen scheint das wichtig zu sein, sie hören aufmerksam zu. Foerch übersetzt ins Deutsche.
Saab fängt an: „Als ich das erste Mal eine Waffe getragen habe, war ich so alt wie ihr.“ Er war 15, seine Familie stammte aus einem ländlichen Dorf. Sie zogen in eine große Armensiedlung in der Peripherie einer Großstadt, in der Hoffnung, Arbeit zu finden, „um Geld zu verdienen, um genug zu essen zu haben“. Aber: Als junger Mensch habe er sich gedacht, dass Gewalt das einfachste Mittel wäre, um eine Situation zu verändern.
Libanon: Als 16-Jähriger kommandierte er 500 Soldaten
Schon sein Großvater habe gegen die französische Kolonialherrschaft gekämpft, sei dabei gestorben. Ihm eiferte er nach. Saab schloss sich den Palästinensern im Land an. „Ich dachte, sie leben unter Besatzung, werden unterdrückt, ich muss auf ihrer Seite kämpfen, damit sie frei werden.“ Kurz nachdem der Krieg ausgebrochen war, ging er für sechs Monate in die Sowjetunion, wurde dort militärisch ausgebildet. Nach der Rückkehr erhielt er – als 16-Jähriger – die Verantwortung für 500 Soldaten. Er diente sich hoch, war 1982 an der Spitze des militärischen Arms seiner Partei. „Ich wurde vom Kind zum Mann, die Jugendphase habe ich nicht gelebt. Wir haben nachts gekämpft und uns tagsüber versteckt.“
Eine der jungen Zuhörerinnen fragt ihn, ob er Menschen getötet habe. „Wir haben auf den Feind keine Blumen geworfen“, antwortet Saab. Im direkten Angesicht habe er niemanden umgebracht, aber letztlich gab er dazu die Befehle. Nach dem Bürgerkrieg sei die Rückkehr in ein „normales“ Leben schwierig gewesen. „Ich habe gelernt, wie man Gebäude zerstört, aber keine Ahnung, wie man eine Hütte für Hühner baut. Ich habe angefangen, mir Fragen zu stellen, um rauszukommen aus der Spirale der Gewalt, darüber, was es gibt außer A und B? Ich blieb mehr als sechs Monate zu Hause, habe niemanden besucht, baute Möbel aus Waffenkisten.“
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Norderstedt: Ohne Gewalt etwas verändern? Die Antwort bleibt aus
Nach einiger Zeit bekam er Arbeit im Ministerium, das für Vertriebene zuständig war, kümmerte sich dort um Jugendliche. Er sagt aber auch: „Die Regierung im Libanon hat nach dem Bürgerkrieg nichts getan für Ex-Kämpfer und generell für die Libanesen.“ Es gab lediglich eine Generalamnestie, wovon dann insbesondere diejenigen profitierten, die sowieso an der Spitze der Macht standen. „Heute ist die Situation schlechter als vor dem Bürgerkrieg.“
Ob sie Angst haben, dass der Krieg zurückkehren könnte? „Es gibt immer mal Probleme“, sagt Christina Foerch, „Es geht im Libanon immer rauf und runter“. Die beiden haben sich übrigens vor über 20 Jahren im Libanon auf einer Demonstration kennengelernt, sie war damals als Journalistin im Land. Heute leben sie weiterhin dort, haben eine gemeinsame Tochter. Saab stellt eine letzte Frage: „Wie kann man ein Land ohne Gewalt ändern?“ Eine Antwort bleibt aus.