Kiel. Prozess vor Landgericht: Betroffene schildert Gefühle. Angeklagter bestreitet, Rassist zu sein – Nebenklage reagiert scharf.
Er kam mit weißem Kapuzenpullover in den Saal 132 des Landgerichts Kiel, trug Sonnenbrille und eine OP-Maske, offenbarte sein Gesicht erst, als er Platz genommen hatte. Für M. S., den Angeklagten im aufsehenerregenden Prozess um den Angriff mit einem VW Amarok auf Antifa-Demonstranten in Henstedt-Ulzburg, war es das erste Aufeinandertreffen mit den Opfern, seitdem er diese am 17. Oktober 2020 nach einer AfD-Veranstaltung angefahren hatte.
Auf der Gegenseite, begleitet von vier Anwältinnen und Anwälten, saßen eine Frau und zwei Männer als Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Eine vierte Person konnte nicht vor Ort sein. Unablässig blickten sie den 22-Jährigen aus Föhrden-Barl (bei Bad Bramstedt) an, während dieser stundenlang durch das Gericht befragt wurde.
S. selbst schien den Augenkontakt eher zu meiden, schaute vielmehr entweder zur Vorsitzenden Richterin Maja Brommann oder auf die vor ihm ausgebreiteten Unterlagen. Vor dem Landgericht hatte die Betroffene der Tat auf einer Kundgebung des Bündnisses „Tatort Henstedt-Ulzburg“ zuvor nachdrücklich ihre Gefühle offenbart.
Angriff durch AfD-Mitglied: „Ich bin um mein Leben gerannt!“
„Ich wurde nicht einfach nur umgefahren, ich wurde mit dem Auto verfolgt, bin in Todesangst um mein Leben gerannt“, sagte sie. „Es hat mich nicht nur als Antifaschistin getroffen, es hat mich in erster Linie als die schwarze Frau getroffen, die hier steht.“
Sie habe nie das Privileg gehabt, „unpolitisch sein zu können“. Die Frau berichtete von „wahnsinnig starken körperlichen Schmerzen über einen langen Zeitraum“, von „schwersten mentalen Kämpfen“. Mit dem Prozess beginnt aber ein neuer Abschnitt. „Der Anschlag hat mir für fast drei Jahre meine politische Stimme geraubt, aber heute stehe ich wieder hier.“
Später, während der Verhandlung, versuchten S. und sein Verteidiger Jens Hummel, ein Rechtsanwalt aus Norderstedt, den Eindruck zu widerlegen, der Angeklagte sei ein Rassist oder Nationalsozialist. Die Ermittlungen hatten hingegen zahlreiche Anhaltspunkte ergeben, dass es daran kaum Zweifel geben kann.
Angeklagter: „Meine ganze Familie sind eigentlich Sozialdemokraten“
Wenn er Rassist und Nazi sei, „warum bin ich dann seit fast einem Jahrzehnt bei einem dunkelhäutigen Hausarzt?“, sagte der Angeklagte vor Gericht. Außerdem habe er Arbeitskollegen aus Namibia und dem Kosovo, mit denen er sich gut verstehe.
„Meine ganze Familie sind eigentlich Sozialdemokraten“, behauptete er, heute sei er ein anderer Mensch. Aus der AfD sei er direkt nach der Tat ausgetreten, weil er gesehen habe, was passieren könne, „wenn zwei Extreme aufeinanderprallen“. Hummel sprach für seinen Mandanten davon, dass es „zum Mensch-Sein gehöre, dass man seine Haltung ändere“.
„Tat im direkten Kontext der alltäglichen Hetze der AfD“
Die Verbindung zwischen S. und der Rechtsaußen-Partei ist für das Solidaritätsbündnis ein wichtiger Aspekt in dem Verfahren. Schließlich habe der damals 19-Jährige den Kreisvorsitzenden Julian Flak gekannt, dieser habe ihn zu Veranstaltungen eingeladen – und nach der Tat hatten beide ebenso Kontakt, wie nun herausgekommen ist. Kurz danach verließ S. die AfD. „Diese Tat steht im direkten Kontext der alltäglichen Hetze der AfD gegen Migrant*innen, People of Color, Queere und Linke. Die Politik der AfD stellt den ideologischen Nährboden für solche Taten dar“, sagte Bündnis-Sprecherin Sonja Petersen.
In Konsequenz würde diese zu rechter und rassistischer Gewalt führen. „S. setzte die Hassbotschaften der AfD in die Tat um, indem er mit seinem Pick-Up gezielt in Menschen fuhr, die er als politische Gegner*innen ausmachte.“
Auch die Nebenklage ließ an den Erklärungen des Angeklagten kein gutes Haar. „Eine sehr durchsichtige, wenn auch verständliche, und gescheiterte Verteidigungsstrategie“, befand Rechtsanwalt Gerrit Onken. Ähnlich ordnete die Nebenklage die Aussagen von S. ein, wonach dieser und seine drei Begleiter verfolgt worden seien und dass der Angeklagte Angst hatte, sein Freund würde totgeschlagen werden.
Nebenklage: „Durchsichtige und gescheiterte Verteidigungsstrategie“
„Das ist auch ein zentraler Teil rechter Ideologie, dass Rechte nie die Angreifer sind und sich immer nur wehren und sich im Zweifel auch vorsorglich schon mal wehren“, so Björn Elberling, der sich ebenso als Rechtsanwalt für die Betroffenen einsetzt.
„Ich wünschte, ich wäre niemals dort gewesen, könnte die Zeit zurückdrehen“, sagte M. S., „ich kann nur sagen, dass ich mich falsch verhalten habe, kann die Betroffenen nur um Entschuldigung bitten.“ Das wiesen diese, wenig überraschend, zurück.
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Prozess um Angriff mit Auto: Sprecherin des Bündnisses muss draußen bleiben
Der Prozess wird am 14. Juli fortgesetzt, ein Urteil soll im Oktober fallen. Als Zeugin dürfte auch die Sprecherin des Bündnisses für Demokratie und Vielfalt in Henstedt-Ulzburg, Britta de Camp-Zang, noch befragt werden. Schließlich war sie es damals, die S. und dessen Freunde bat, zu gehen – wenig später kam es zu der Tat. Und: Sie hat wiederholt gesagt, dass es die vom Angeklagten beschriebene Bedrohung durch die Antifa nicht gegeben habe.
Beim ersten Verhandlungstag musste de Camp-Zang draußen bleiben. Der erstaunliche Grund: Das Landgericht ist nicht barrierefrei, nur eine enge Treppe führt in den Zuschauerbereich. Die Bündnis-Sprecherin aber sitzt im Rollstuhl, es war nicht möglich, einen Weg zu finden, damit sie in den ersten Stock gelangt.