Norderstedt. Das Team der Norderstedter Werkstätten fährt zu den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung. Wie ihre Chancen sind.
Noch 107 Tage. Maike Rotermund (60) weiß auf den Tag genau, wann es soweit ist. Wann sie mit ihrem Team zu dem größten und wichtigsten Wettkampf fahren wird, den es im Leben der meisten ihrer Sportler geben wird. Den Special Olympics World Games. Den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, die dieses Jahr in Berlin stattfinden.
Es ist das erste Mal, dass die weltweit größte inklusive Sportveranstaltung in Deutschland ausgetragen wird. Etwa 7000 Athleten aus 190 Nationen nehmen daran teil – sechs davon kommen von den Norderstedter Werkstätten und dem Inklusiven Sportverein Norderstedt.
Special Olympics: Diese Norderstedter starten für Deutschland bei Weltspielen
„Wie lange noch?“, diese Frage stellen die Sechs ihrer Trainerin immer wieder, wenn sie in diesen Tagen Speerwurf, Staffellauf oder Weitsprung üben. Maike Rotermund ist die Sportlehrerin (?) der Norderstedter Werkstätten und ihr Coach. Aber für die meisten ist sie einfach nur Maike. Eine Freundin.
Bereits sechsmal haben die Norderstedter Werkstätten seit 2007 mit einem Team an den Special Olympics World Games teilgenommen und dabei zahlreiche Medaillen gewonnen. Auch dieses Mal steuern einige Athleten wieder auf Gold, Silber und Bronze zu. Dafür trainieren die Männer und Frauen unermüdlich zweimal pro Woche. „Die Sportler sind total fokussiert und engagiert“, sagt Maike Rotermund und erzählt, dass einige von ihnen bereits ihre Ernährung umgestellt haben.
Die Weltspiele finden zum ersten Mal in Deutschland statt
Qualifiziert für die World Games hatten sich die Sportler über ihre Leistungen bei den nationalen Sommerspielen, die 2022 ebenfalls in Berlin ausgetragen wurden.
Zur Erklärung: Alle zwei Jahre finden nationale Sommer- und Winterspiele in Deutschland statt. Bei den Wettkämpfen können sich die Teilnehmer für die Weltspiele qualifizieren, die alle vier Jahre rund um den Globus ausgetragen werden. Diese Wettbewerbe sind vom Stellenwert vergleichbar mit den Olympischen Spielen, nur eben für Menschen mit geistiger Behinderung.
„Damals waren die Sportler schon stolz auf ihre Teilnahme – aber jetzt platzen sie fast vor Glück und Stolz“, sagt Maike Rotermund und erklärt den Unterschied zwischen den nationalen Landesspielen und den Weltspielen. „Bei den nationalen Spielen treten Sportler aus Deutschland für ihren jeweiligen Verein oder ihre Werkstatt gegeneinander an. Bei den Weltspielen tritt ein Sportler hingegen für sein Land an – für Deutschland.“
Mit dem Adler auf der Brust fühlen sie sich wie die Fußball-Nationalmannschaft
Mit dem Adler auf der Brust – das sagen die Athleten aus den Norderstedter Werkstätten immer wieder. Voller Stolz. „Wenn sie alle das gleiche Deutschland-Trikot tragen und ins Stadion einlaufen, fühlen sie sich wie die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft“, sagt Maike Rotermund, die gemeinsam mit Oliver Zöbisch das Team coacht.
Die Athleten aus Norderstedt treten im Radsport und der Leichtathletik an – sowie im Tennis und im Segeln gemeinsam mit einem Unified Partner. „Das bedeutet, dass ein Sportler mit geistiger Behinderung und ein Sportler ohne geistige Behinderung zusammen antreten“, erklärt Maike Rotermund. Sie ist es gewohnt, den Menschen zu erklären, was die Special Olympics sind – und dass man diese nicht mit den Paralympischen Spielen für Menschen mit einer Körperbehinderung verwechseln darf.
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Norderstedt: Acht Sportler fahren zu dem wichtigsten Wettkampf ihres Lebens
Zusammen mit den Unified Partnern sind die Norderstedter Werkstätten und der Inklusive Sportverein also mit acht Athleten vertreten. Ihr Motto: „Gemeinsam sind wir bärenstark“. Bärenstark haben sie wegen des Berliner Bären ausgewählt.
Wie lange noch? Die Frage kennt Maike Rotermund bereits von ihren Sportlern. In den letzten Wochen ist aber noch eine andere Frage hinzu gekommen. Eine Bitte, ein Wunsch. „Können wir noch öfter trainieren.“
Das Abendblatt stellt die Athleten der Norderstedter Werkstätten sowie die beiden Unified Partner vor und begleitet die Sportler in den nächsten Monaten während ihrer Vorbereitungsphase auf die Special Olympics World Games, die vom 17. bis 25. Juni 2023 in Berlin stattfinden.
Jan Brückner: Auf den Spuren von Usain Bolt
Jan Brückner (32), Leichtathletik: Irgendwann in seiner Jugend hat Jan Brückner mal Judo gemacht und war im Schwimmverein. War eine Art Hobby. Heute ist Sport nicht nur Spaß für ihn, sondern ein wichtiger Teil seines Lebens. Als er mit 18 zu den Norderstedter Werkstätten kam, wurde dort sein Talent für Leichtathletik entdeckt.
Seine Stärke ist Laufen. Bei den Special Olympics World Games startet er im 200-Meter- und im 400-Meter-Lauf sowie in der 4 x 400-Meter-Staffel. „Ich bin sehr schnell“, sagt Jan über sich selbst. Er schafft die 400 Meter in unter einer Minute, die 200 Meter in 27 Sekunden. Zum Vergleich: Der Weltrekord liegt bei 19,19 Sekunden. Er wurde von Usain Bolt aufgestellt – übrigens auch in Berlin. Ein gutes Omen für Jan Brückner.
Franz Bechler: Ein Meister der Technik hofft auf den magischen Moment
Franz Bechler (33), Leichtathletik: Schon als kleiner Junge ist Franz Bechler nie einfach nur gegangen. Er ist immer gerannt. „Warum langsam sein, wenn es auch schnell geht.“ Mit diesem Motto hat es der 33-Jährige in das Team Norderstedt geschafft und sich dank seiner Leistungen bei den Nationalen Spielen im vergangenen Jahr für die Weltspiele qualifiziert. Dort tritt er im 100-Meter-Sprint, der 4 x 100-Meter-Staffel sowie im Minispeerwurf an.
Er ist ein Meister der Technik und schafft es, das Geschoss auf 18,80 Meter zu werfen. Franz Bechler hat es vor sechs Jahren schon einmal zu den Weltspielen geschafft – damals im Floorball. Das ist eine Mischung aus Eis- sowie Feldhockey und eine große Leidenschaft von Franz. Beim entscheidenden Spiel um Platz 3 kam es 2017 nach der Verlängerung zum Penaltyschießen. Franz stand mit der Trikotnummer eins im Tor und hat den alles entscheidenden Ball gehalten. „Das werde ich nie vergessen“, sagt Franz Bechler und hofft, dass es in Berlin wieder so etwas geben wird: einen magischen Moment.
Robin Schmidt: Der Leichtathlet will zum großen Sprung ansetzen
Robin Schmidt (25), Leichtathletik: Er ist ein Multitalent, eine richtige Sportskanone. Egal, ob es um Tennis, Basketball oder Floorball geht – Robin Schmidt mag viele Sportarten. Aber in keiner ist er so gut wie im Weitsprung. Mit einer Weite von 2,98 Metern hat er sich im vergangenen Jahr bei den Nationalen Spielen bereits die Goldmedaille geholt. An diesen Erfolg möchte der 25-jährige Norderstedter in diesem Jahr anknüpfen: Er startet wieder beim Weitsprung, sowie dem 100-Meter-Sprint und der 4 x 100-Meter-Staffel.
„Das Wichtigste und Schwierigste ist es, den richtigen Punkt für den Absprung zu haben“, sagt Robin Schmidt und erklärt: „Man darf nicht auf den schwarzen Balken treten, wenn man abspringt, sonst ist der Sprung ungültig.“ Damit er mit dem Anlauf genau hinkommt, misst er die Zahl der Schritte jedes Mal vorher ab. Das ist sein Geheimrezept für eine Medaille. 27,20 Meter ist die Anlaufweite. Die Meterzahl schreibt er sich auf die Hand, damit er sie nicht vergisst.
Valentina Beck: Mit drei Rädern auf Medaillen-Kurs
Valentina Beck (31), Radsport: Eigentlich hat sie schon immer Sport gemacht. „Mein ganzes Leben lang“, sagt Valentina Beck und lacht. Schließlich ist sie erst 31. Aber bei der langen Liste ihrer Wettkämpfe, Erfolge und Medaillen ist sie so was wie ein alter Hase im Team Norderstedt. Sie ist bereits viermal bei den Nationalen Sommer-Spielen, einmal bei Nationalen Winterspielen und zweimal bei den Weltspielen angetreten – und das immer in anderen Sportarten.
„Man darf nicht zweimal in der gleichen Sportart starten“, sagt Valentina und erklärt, was sie schon alles gemacht hat: Leichtathletik und Schneeschuhlauf. In diesem Jahr startet sie beim Radrennen über 500 Meter und 1 Kilometer. Das Besondere: Ihr Rad hat drei Räder. „Das ist gar nicht so einfach, damit um die Kurve zu kommen“, sagt Valentina, die sich mit besonderen Rädern auskennt. Gemeinsam mit ihrem Trainer Oliver Zöbisch ist sie schon bei inklusiven Radrennen gestartet – mit einem Tandem. Doch egal, ob zwei oder drei Räder – Valentina will richtig in die Pedale treten, um sich eine Medaille zu holen.
Nora Neuenroth und Alexander Knaub: Sie holten Gold bei der Generalprobe
Nora Neuenroth (43) und Alexander Knaub (45), Unified Team Segeln: Leinen los für die Schiffsbauingenieurin aus Kiel und den Athleten von den Norderstedter Werkstätten. Das Duo hat sich bei einem Schnuppersegeln vor zwei Jahren kennengelernt, zu dem die Seglervereinigung Kiel eingeladen hatten. Für Alexander Knaub war es der erste Kontakt mit dem Wassersport, in den Jahren zuvor war stets die Leichtathletik sein Metier. Da er von der neuen Herausforderung sofort begeistert war, entstand die Idee, inklusives Segeln auf die Beine zu stellen.
„Eigentlich wollte ich dabei nur helfen, doch dann wurde noch ein Unified Partner benötigt und ich bin kurzfristig eingesprungen“, sagt Nora Neuenroth, die seit ihrem 8. Lebensjahr segelt. Im vergangenen Jahr sind die beiden Segler Neuenroth/Knaub erstmals gemeinsam gestartet und haben sich gleich für die Weltspiele qualifiziert. Die Segelwettbewerbe fanden übrigens auf dem Wannsee statt – wo auch dieses Jahr die Regatta ausgetragen wird. Bei dieser „Generalprobe“ hat sich das Team Norderstedt Gold geholt. Bei den World Games steuern sie den nächsten Erfolg an.
Annabell Behrmann und Christian Schlaikier: Dieses Team ist ganz großes Tennes
Annabell Behrmann (30) und Christian Schlaikier (48), Unified Team Tennis: Ball, Satz und Sieg! Im vergangenen Jahr bei den Nationalen Spielen haben es diese beiden ihrer Konkurrenz bereits gezeigt, jetzt schlägt Norderstedts Unified Team im Tennis das nächste Mal zum Erfolg auf. Die beiden verbindet nicht nur ihre Leidenschaft für Tennis, sondern auch ihre Verbundenheit mit den Norderstedter Werkstätten. Als Redakteurin des Hamburger Abendblattes hat Annabell schon oft über die Werkstätten und ihre Athleten berichtet – so wie Christian Schlaikier, den der Sport schon sein Leben lang begleitet. Früher spielte er Fußball, Tennis, Tischtennis, bei den Werkstätten entdeckte man sein Talent für Leichtathletik.
Er war so gut, dass er im Landesleistungszentrum mit anderen geistig behinderten Menschen trainieren durfte. Mehrmals wurde er Deutscher Meister bei Leichtathletik-Wettkämpfen des Deutschen Behindertensportverbands. 2004 schaffte er es zu den Europameisterschaften nach Paris. Für ihn und seine Unified-Partnerin Annabell sind es die ersten Weltspiele. „Seit ich das erste Mal darüber berichtet habe, wollte ich selbst daran teilnehmen. Dass es jetzt soweit ist, kann ich immer noch nicht glauben“, sagt Annabell Behrmann, die beim TSC Glashütte Tennis spielt. Wenn Christian nicht gerade mit ihr auf dem Platz steht, feuert er sie vom Rand aus an. Dieses Team ist ganz großes Tennis!
Oliver Zöbisch (60) und Maike Rotermund: Ohne sie gebe es kein Team Norderstedt
Oliver Zöbisch (60) und Maike Rotermund (60), Coaches: Sie sind die Trainer des Teams – die Ausbilder, Anleiter und Betreuer. Die, die ihre Sportler unermüdlich anlernen, motivieren und anfeuern. Die zu Höchstleistungen anspornen, aufbauen, trösten und niemals aufgeben. Ohne sie gebe es vermutlich kein Team Norderstedt, keine Athleten und keine Medaillen. Maike Rotermund hat den Sport bei den Norderstedter Werkstätten vor 38 Jahren aufgebaut, der Job ist ihre Berufung.
Physiotherapeut Oliver Zöbisch unterstützt das Team seit 10 Jahren als Coach der Radsportler – so wie Valentina. 2019 war er bereits als Coach der Nationalmannschaft Radsport bei den Weltspielen in Abu Dhabi am Start, für Maike Rotermund sind es die sechsten World Games an der Seite ihrer Athleten. „Wir freuen uns riesig, dass die Weltspiele jetzt in Deutschland stattfinden und unsere Sportler dieses Mal anderen Sportlern unser Land zeigen können – nachdem wir in den vergangenen Jahren zu Gast in anderen Ländern waren“, sagt Maike Rotermund und fügt hinzu: „In Berlin spielt die Musik – aber das Orchester kommt aus der ganzen Welt.“