Norderstedt. Die Tat soll sich vor 23 Jahren abgespielt haben. Der Angeklagte schweigt – bisher. Was die Zeugen ausgesagt haben.
Die Vorwürfe wiegen extrem schwer: Ein 54 Jahre alter Norderstedter muss sich derzeit vor dem Amtsgericht Norderstedt verantworten, weil er vor Jahren einen damals zwölf Jahre alten Jungen vergewaltigt haben soll. Im Jahr 2000 soll sich die Tat abgespielt haben, in einer Wohnung in Norderstedt. Bisher gab es zwei Prozesstage – an denen der Angeklagte zu den Vorwürfen schwieg.
Für das, was passiert sein soll, gibt es nur einen einzigen Zeugen: den mutmaßlich Geschädigten selbst. Es handelt sich um einen heute 35 Jahre alten Mann, der im Ausland lebt und offenbar nach vielen Jahren die Kraft fand, diese schwere – nicht verjährte – Straftat zur Anzeige zu bringen.
Amtsgericht: Norderstedter soll 12 Jahre alten Jungen missbraucht haben
In dem Verfahren, für das er mit dem Flugzeug anreiste und in dem er später per Video-Schalte befragt wurde, tritt er als Zeuge und Nebenkläger auf. Und er sagte unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Was er dem Angeklagten vorwirft, lässt sich aber anhand der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft und anderen Aussagen, unter anderem von Familienmitgliedern des Zeugen, rekonstruieren.
Demnach soll die Vergewaltigung am 10. September 2000 passiert sein. Der zwölf Jahre alte Junge übernachtete in der Wohnung des Angeklagten, weil er mit dessen acht Jahre alten Tochter befreundet war. Am Abend sollen sich dann der Angeklagte – damals 31 Jahre alt – und der Junge einen japanischen Zeichentrickfilm angesehen haben. Und zwar einen sogenannten „Hentai“-Film, mit pornografischen Darstellungen.
Wie es dazu kommen konnte, dass der Junge in dieser Wohnung übernachtete
Der erwachsene Mann habe dann mit dem Jungen in einem Bett geschlafen, die Tochter habe in einem anderen Zimmer geschlafen. Und dann, am frühen Morgen, habe der Mann den Jungen vergewaltigt – so schilderte es der Zeuge. Er sei davon wach geworden. Der Junge konnte die Tat offenbar unterbrechen, der Täter habe sich danach schlafend gestellt.
Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Junge in dieser Wohnung übernachtete? Aussagen verschiedener Familienmitglieder, etwa der Großmutter des Geschädigten, zeichnen das Bild von prekären Verhältnissen und einer extrem schwierigen Kindheit. Der Zwölfjährige lebte mit Vater und zwei Brüdern in Norderstedt. Von der Mutter, einer Frau mit Drogen- und Alkoholproblemen, hatte der Vater sich getrennt.
Vater war alleinerziehend, suchte Kontakt – und lernte den Angeklagten kennen
Der Vater hatte dann Kontakt zu einem Norderstedter Verein alleinerziehender Mütter und Väter gesucht – und dort den Angeklagten kennengelernt, der nach der Trennung von seiner Frau zusammen mit seiner Tochter lebte. Es entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Vätern.
Man habe zusammen Ausflüge gemacht, sei zusammen Kanu gefahren und auch mal ins Legoland, gab der Vater zu Protokoll. Auch andere Väter und Mütter hätten zu dem Freundeskreis gehört. Dass Kinder bei anderen übernachteten, sei ganz normal gewesen. Einen Verdacht gegen den Angeklagten habe er nicht gehegt.
Kind verletzte sich selbst: „Ich bin nichts wert, ich will sterben“
Auffällig sei hingegen der mutmaßlich Geschädigte gewesen – als Kind und als Jugendlicher. Extrem schwermütig sei sein Sohn gewesen, habe sich selbst verletzt. „Einmal war ich dabei, wie er wegen einer Kleinigkeit immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlug“, sagte der Vater. „Er hat auch immer gesagt, ich bin nichts wert, ich will sterben.“
Unklar blieb nach den Schilderungen des Vaters, in welchem Alter diese Veränderung mit seinem Sohn passierte – ob also nach der mutmaßlichen Tat oder schon zuvor. Denn es gab auch viele andere Dinge, die auf der Seele des Jungen lasteten. Etwa die Trennung von der neuen Lebensgefährtin des Vaters, die offenbar eine Zeit lang eine Art Ersatzmutter gewesen war.
Neurologe sah offenbar keine Anzeichen von Missbrauch
Auch die Großmutter des mutmaßlich Geschädigten sagte im Zeugenstand aus. Und sie konnte durchaus von einer abrupten Veränderung ihres Enkels berichten: „Er hatte plötzlich kein Vertrauen in Erwachsene mehr.“ Der Junge sei immer traurig gewesen, „er liebte nur den Regen“, so die Großmutter. Und auch zu ihr habe er oft gesagt, dass er „nichts wert“ sei.
Sie und ihr Sohn hätten dann auch mit dem Kind Ärzte aufgesucht, unter anderem einen Neurologen. Bei dem als ruhig und sehr intelligent geschilderten Kind sei dann ADHS festgestellt worden – Anzeichen auf sexuellen Missbrauch sah man offenbar nicht.
Auch die Tochter des Angeklagten wurde vor Gericht als Zeugin gehört – eine heute 31 Jahre alte Frau, die schon „seit dem Teenageralter“ an Schizophrenie leidet, wie sie gleich zu Anfang sagte. Sie beschrieb die damalige Freundschaft zu dem mutmaßlich Geschädigten und auch zu seinen beiden Brüdern. Angaben zu dem, was sich am 9. und 10. September 2000 in der Wohnung abgespielt haben soll, konnte sie nicht machen.
Ehefrau: „Er wacht oft nachts von Albträumen auf, ruft um Hilfe“
Sicher ist: Der mutmaßlich Geschädigte hat bis heute mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen. „Er wacht oft nachts von Albträumen auf, ruft um Hilfe“, schilderte seine Ehefrau, 32 Jahre alt, die ebenfalls für die Aussage aus dem Ausland angereist kam und später weitere Angaben per Video-Schalte machte. Ihr Ehemann habe auch mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen, „einmal musste ich ihm das Küchenmesser aus der Hand winden“.
Die beiden sind schon seit 2006 ein Paar, leben seit Jahren im Ausland zusammen. Im Jahr 2014, so die Ehefrau, habe er erste Andeutungen gemacht, dass es in seiner Kindheit „einen Vorfall“ gegeben habe. Aber erst 2018, im Rahmen einer Psychotherapie, habe er sich offenbart.
Nur eine Scheinerinnerung? Was ein psychologisches Gutachten besagt
2019 zeigte der mutmaßlich Geschädigte die Tat an, in einer Polizeistation in Norderstedt. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, verlangte später ein aussagepsychologisches Gutachten. Das liegt vor, eine Gutachterin aus Stuttgart hat es erstellt. Und es besagt, dass die Erinnerungen des mutmaßlich Geschädigten auf tatsächlich erlebten Tatsachen beruhen.
Eine andere Möglichkeit hatte der Strafverteidiger Jens Hummel, der den Angeklagten vertritt, zu Beginn des Prozesses angedeutet. Dass es sich nämlich um eine sogenannte „Scheinerinnerung“ handeln könnte, entstanden viele Jahre später im Kopf des Nebenklägers.
Lebte Ehefrau des Angeklagten im September 2000 schon in der Wohnung?
Diese Version sollte, so die Hoffnung der Verteidigung, die Aussage der Ehefrau des Angeklagten stützen. Denn sie, so die Verteidigung, habe schon im September 2000 in der Wohnung gelebt, zwei Jahre vor der Eheschließung. Der mutmaßlich Geschädigte hatte hingegen angegeben, dass zum Tatzeitpunkt keine Frau in der Wohnung lebte.
Vor Gericht erschien also die Ehefrau des Angeklagten – man trennte sich zwar schon nach einigen Jahren Ehe, blieb aber auf dem Papier verheiratet. Die Zeugin, 52 Jahre alt, war dann auch durchaus gewillt, ihren Ehemann zu entlasten. „Der macht sowas nicht“, sagte sie.
Amtsgericht: Was sich am nächsten Prozesstag ändern wird
Allerdings hatte sie überhaupt keine Erinnerung daran, dass sie schon 1999 in die Wohnung in Norderstedt gezogen sein soll – alles, was sie sagte und auch ihr selbst verfasster Lebenslauf deuteten auf einen viel späteren Zeitpunkt hin. Und stützten damit die Version der Gegenseite.
Jens Hummel möchte dennoch belegen, dass die Frau im September 2000 in der Wohnung gelebt haben könnte – zum nächsten Prozesstag sollen dafür Unterlagen vom ehemaligen Arbeitgeber beigebracht werden.
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Außerdem kommt es am nächsten Prozesstag, an dem auch mit einem Urteilsspruch zu rechnen ist, zu einer sehr wesentlichen Änderung. Der Angeklagte will nämlich sein Schweigen brechen und selbst seine Version der Geschehnisse im September 2000 erzählen.
Am Donnerstag, 9. März, wird die Verhandlung im Norderstedter Amtsgericht ab 8 Uhr fortgesetzt.