Norderstedt. Stadt tritt bundesweitem Bündnis bei, das Straßenverkehrsordnung ändern möchte. Wo Politik auf die Bremse drücken würde.

Die Stadt Norderstedt ist jetzt mit Beschluss der Stadtvertretung dem Bündnis „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ beigetreten. Ebenso wie andere knapp 280 Städte deutschlandweit, setzt sich nun also auch Norderstedt dafür ein, in seinen Stadtgrenzen auf allen Straßen über die Einführung von Tempo-30-Zonen selbst zu bestimmen.

Egal, ob auf Bundes- oder Landesstraßen, egal, ob Wohn- oder Durchfahrtsstraßen, egal, ob nur aufgrund von Unfallgefahr, Lärmbelastung oder einfach nur, weil es wünschenswert für das Lebensgefühl in den Stadtquartieren ist – wenn die Initiative der Bündnis-Städte Erfolg haben sollte, könnten Kommunen Tempo-30 dort einführen, wo sie es als notwendig erachten. Auch flächendeckendes Tempo-30 in ihren Stadtgrenzen könnten sie anordnen, sofern es politische Mehrheiten dafür gäbe.

Verkehr: Tempo-30-Zonen – Norderstedt will selbst entscheiden dürfen

Dass die Norderstedter Politik bei dem Thema alles andere als einig ist, zeigte die Abstimmung in der Stadtvertretung: CDU, FDP und AfD stellten sich mit 13 Stimmen gegen den Beitritt zum Bündnis. Während die SPD, die Grünen, Wir in Norderstedt (WiN), Die Linke und Freie Wähler mit 23 Stimmen dafür waren.

Vertreter des Naturschutzbundes (Nabu) und des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) hatten die Abstimmung mit ihren Eingaben an die Stadtvertretung erwirkt. In Schleswig-Holstein sind außer Norderstedt auch Bad Segeberg, Flensburg, Kiel, Schwentinental, Meldorf, Fargau-Pratjau, Klein-Gadebrügge, Ahrensburg und Plön Mitglieder des Bündnisses.

Städte wollen Straßenverkehrsordnung ändern

Ihr erklärtes politisches Ziel ist die Änderung oder Abschaffung des umstrittenen Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Er erlaubt eine Umgestaltung des Straßenraums nur dann, wenn die Kommunen eine konkrete Gefährdung nachweisen können – etwa für den Radverkehr oder andere Verkehrsteilnehmer.

Die bloße Diskussion um mehr Tempo 30 im Vorfeld der Entscheidung in Norderstedt, hatte in der Öffentlichkeit für heftige Reaktionen gesorgt (wir berichteten). Überzeugte Autofahrerinnen und Autofahrer argumentierten vehement gegen jegliche Verlangsamung des Verkehrs. Andere begrüßten die Ziele des Bündnisses, weil sie gut für den Klimaschutz, die Lärmreduzierung und die Sicherheit von Radfahrenden und Fußgängern seien, hier besonders Kinder.

Norderstedter Politik lehnt flächendeckendes Tempo 30 ab

Das Abendblatt hat die Norderstedter Politik gebeten, die Gründe für ihre Befürwortung oder Ablehnung des Bündnisses zu erläutern und Argumente für oder gegen mehr Tempo 30 in der Stadt zu nennen.

„Wir haben dagegen gestimmt und erwarten durch die Petition gar nichts“, sagt CDU-Fraktionschef Peter Holle. „Die Regelungen in der StVO sind sinnvoll. So ist geregelt, dass bei Tempo 30 Rechts vor Links gilt, es keine Ampeln geben darf und Fahrräder auf die Straße müssen. Wenn jede Gemeinde und Stadt für sich entscheidet, haben wir unübersichtliche Verhältnisse auf den Straßen.“

CDU: „Tempo 30 kann man auch jetzt schon durchsetzen“

Argumente, dass man zum Beispiel endlich auf dem Glashütter Damm Tempo 30 machen könnte, seien irreführend. „Das können wir jetzt schon. Es liegt nur am Willen der Stadt, dieses umzusetzen: Rechts vor Links und Straße raus aus dem 16 Jahre alten Verkehrsentwicklungsplan, der diese als ,verkehrswichtig‘ erachtet. Das Schlagwort heißt ,Machen’ und sich nicht hinter Gesetzen verstecken“, sagt Holle und bestreitet, dass die Extremversion, das flächendeckende Tempo 30, noch eine „lebenswerte Stadt“ ausmache. „Das liegt im Auge des Betrachters. Es bedeutet auf jeden Fall den Rückbau aller Ampeln und Fahrradwege.“

Auch die FDP war gegen den Beitritt. Weil die Liberalen bei zu viel oder sogar stadtweitem Tempo 30 negative Effekte befürchten. Generelles Tempo 30 werde definitiv den Verkehr verlangsamen und zu mehr Staus und Zeitverzögerungen führen, sagt Fraktionschef Tobias Mährlein. „Die Menschen müssen früher zur Arbeit fahren und kommen später nach Hause. Und das trifft nicht nur, wie von den Grünen gewünscht, den privaten Autofahrer, sondern es trifft genauso die Busse im ÖPNV und die Lieferverkehre.“

FDP: Mehr Tempo 30 bedeutet auch mehr Verkehr

Modellversuche hätten erwiesen, dass Tempo 30 zum Einsatz von mehr Bussen im ÖPNV und mehr Lastwagen im Lieferverkehr geführt hätten – sonst könnten Zeitverluste durch Langsamfahren nicht aufgefangen werden. „Und das soll dann nachhaltig und ökologisch sein? Deutschland ist an vielen Stellen jetzt schon langsam genug, wir müssen unser Land nicht noch künstlich langsamer machen“, sagt Mährlein.

Sven Wendorf (AfD) sieht „bürgerliche Freiheiten“ durch die Ziele des Bündnisses in Gefahr. Sie werde „von links-grüner Seite als Liberalisierung des Straßenrechts verkauft, dabei wollte sie doch nur den motorisierten Individualverkehr stark beschneiden und nach Möglichkeit ganz abschaffen. „Dem stellen wir uns ausdrücklich entgegen“, sagt Wendorf. Die Geschwindigkeiten in Norderstedt seien angemessen und bedürften keiner weitflächigen Einschränkung. „Eine weitere Begrenzung würde lediglich das Ziel verfolgen, den Autofahrern das Leben zu erschweren.“

SPD: Kommunale Selbstverwaltung wird gestärkt

Im Lager der Befürworter sieht niemand Bürgerrechte in Gefahr – vielmehr würde die kommunale Selbstbestimmung ausgeweitet. Nicolai Steinhau-Kühl, SPD-Fraktionschef, will mit seinem Ja zum Bündnisbeitritt die „Lobby für mehr Entscheidungsfreiheit von Kommunen“ stärken. „Flächendeckendes Tempo 30 ist für uns nicht das Ziel, wohl aber Tempo 30 in einzelnen Bereichen.“

Für Grünen-Chef Marc Muckelberg ist der Beitritt zur Initiative ein erster Schritt dazu, der Kommune eine „langersehnte Gestaltungsmöglichkeit“ zu eröffnen. „Nämlich Tempo-30-Zonen dort zu errichten, wo Bürger*innen und Lokalpolitik aus täglicher Anschauung wissen, dass sie geboten sind“, sagt Muckelberg.

Grüne wollen Tempo-30-Zonen in Wohnstraßen

„Hier geht es vor allem um die Sicherheit unserer Kinder, also vor Kitas und Schulen, und um die Sicherheit der älteren Generation, also auch vor Seniorenheimen.“ Von flächendeckendem Tempo 30 in der Stadt sprechen auch die Grünen nicht, wohl aber gezielt in reinen Wohnstraßen, vor Kitas, Schulen, Seniorenheimen und in Bereichen erhöhter Unfallgefahr.

Thomas Thedens von den Freien Wählern würde diese Liste noch durch Flüchtlingsunterkünfte erweitern. „Wir sind der Meinung, dass die Städte und Gemeinden vor Ort die Lage besser einschätzen können, als eine Landesregierung in Kiel oder eine Bundesregierung in Berlin.“ Um ein flächendeckendes Tempo 30 in Norderstedt geht es dabei überhaupt nicht.

Verkehr: Tempo 30 vor Kitas scheiterte mehrfach an der Gesetzeslage

„In vielen Sitzungen des Ausschusses Stadtentwicklung und Verkehr standen alle Parteien immer wieder vor dem Problem, dass wir uns einig waren, Tempo-30-Zonen vor Kindergärten einzurichten“, sagt Reimer Rathje, Fraktionschef von Wir in Norderstedt (WiN). Beispielsweise sei vor beiden Kindergärten an der Tannenhofstraße die Einführung der Beschränkung an den gesetzlichen Vorgaben gescheitert. „Das sorgte für viel Verdruss und Unverständnis bei den Eltern und auch in der Kommunalpolitik. Wir möchten gern als Betroffene vor Ort für unsere Stadt Entscheidungen treffen.“

Problematisch werde das, wenn jeder Bürger und jede Bürgerin einen Grund für Tempo 30 in der eigenen Straße anbringe. „Hitzige Debatten sind vorprogrammiert. Ein flächendeckendes Tempo 30 ist für die WiN auf gar keinen Fall ein Thema“, sagt Rathje. „Fakt ist: Je mehr Tempo-30-Zonen wir haben, desto stärker belastet werden die übrigen Straßen sein, auf denen vermeintlich schneller gefahren werden darf. Da aber jeder und jede ein Recht auf ein lebenswertes Umfeld hat, dürfen wir nicht einige wenige zu sehr belasten.“