Kreis Segeberg. Serpil Midyatli und Bengt Bergt (SPD) sprechen über die extreme Personalnot – und darüber, wie sie diese bekämpfen wollen.
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt herrscht ein extremer Fachkräftemangel – auch in Schleswig-Holstein wird händeringend Personal gesucht. Der 40 Jahre alte Bundestagsabgeordnete Bengt Bergt hat das Abendblatt gemeinsam mit der Landesvorsitzenden Serpil Midyatli (47) zum Gespräch in sein Wahlkreisbüro in Henstedt-Ulzburg eingeladen.
Die beiden SPD-Politiker sprechen über die gefährlichen Auswirkungen der Personalnot, die veränderten Bedürfnisse der Arbeitnehmer und skizzieren, wie ein Arbeitsmodell der Zukunft aussehen könnte.
Frau Midyatli, Herr Bergt, laut Arbeitsagentur sind die Arbeitsmarktzahlen trotz des Ukraine-Krieges stabil für Schleswig-Holstein – doch überall klagen Branchen über fehlende Fachkräfte. Wie passt das zusammen?
Serpil Midyatli: Wenn wir über einen „stabilen Arbeitsmarkt“ sprechen, sind damit traditionell die gesunkenen oder gleichbleibenden Arbeitslosenzahlen gemeint. Die Realität ist aber inzwischen eine ganz andere: Nämlich, dass wir einen massiven Fachkräftemangel haben. Im Grunde müssten wir andere Zahlen veröffentlichen und uns ansehen, wie viele Ausbildungs- und Arbeitsplätze nicht besetzt sind. Erst dann erkennen wir, wo es gerade mangelt. Es reicht nicht mehr, sich nur die Arbeitslosenzahlen anzuschauen.
Was hat der Fachkräftemangel für Auswirkungen auf uns und unser Land?
Midyatli: Auf der einen Seite merken wir, dass zu wenig Arbeitskräfte da sind, die unsere Kinder betreuen und vernünftig bilden oder uns pflegerisch und gesundheitlich versorgen können. Auf der anderen Seite ist unser Wohlstand gefährdet: Zwar gibt es genügend Aufträge – aber wir haben zu wenig Fachkräfte, die sie ausführen können. Es kann nicht mehr so viel abgearbeitet und Gewinn erzielt werden. Auch dem Staat fehlen dadurch Einnahmen, was es schwer macht, in Kitas, Schulen und Infrastruktur zu investieren.
Fachkräftemangel: Warum zwei SPD-Politiker ausgerechnet jetzt die 30-Stunden-Woche fordern
Wo sind denn die ganzen Fachkräfte abgeblieben?
Midyatli: Die Menschen sind nicht verschwunden. Aber wir reden schon seit zig Jahren darüber, dass eine Zeit kommen wird, in der die Baby-Boomer in Rente gehen. Das wird in den nächsten Jahren passieren. Den Peak erreichen wir 2030. Dann werden wir einen extremen Arbeitskräftemangel erleben. Für mich ist aber sehr wichtig zu betonen: Diese Menschen gehen in ihren wohlverdienten Ruhestand. Sie haben viele Jahre hart gearbeitet.
Sind die Baby-Boomer, die in Rente gehen, der einzige Grund für den extremen Engpass auf dem Arbeitsmarkt?
Midyatli: Wir erleben gerade einen Wandel der Arbeitswelt. Vor ein paar Jahren wurde ich noch dafür belächelt, als ich gesagt habe, wir brauchen das Recht auf Homeoffice für Arbeitnehmer:innen. Angefangen mit Herrn Kubicki (FDP-Bundestagsabgeordneter Wolfgang Kubicki, Anm. d. Red.). Keine eineinhalb Jahre später, mit Beginn der Corona-Pandemie, ist es das Allheilmittel. Wir haben inzwischen definitiv einen Arbeitnehmer:innenmarkt. Unternehmen müssen vernünftige Arbeitsbedingungen bieten, dazu gehören gute Löhne und Gehälter. Viele, die ausgebildet werden, bleiben sonst nicht lange in den Berufen.
Bengt Bergt: Das beste Beispiel ist der Hamburger Flughafen. Da haben sich auch viele gefragt: Wo sind die denn alle? Die Menschen hatten keine Lust mehr, lange Schichten für relativ wenig Geld zu schieben und sind dann in Nine-to-five-Jobs gewechselt. Dort verdienen sie als nicht-qualifizierte Quereinsteiger gutes Geld und können ihren Job besser mit der Familie vereinbaren. Auf uns kommt noch einiges zu. Wir haben von der IHK Schleswig-Holstein Daten, dass wir rund 300.000 Stellen bis 2030 nicht mehr besetzen können.
Personalmangel in der Verwaltung erschwert Ausbau der Erneuerbaren Energien
Herr Bergt, wie kann aus Ihrer Sicht dem Fachkräftemangel begegnet werden?
Bergt: Wir brauchen Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland. Das kann aber nicht alles sein. Es gibt viele Leute, die sich quer qualifizieren und umsteigen wollen, aber vor Hürden stehen. Meiner Meinung nach brauchen wir eine modularisierte Ausbildung. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich weiterzubilden, aber währenddessen trotzdem schon Arbeit leisten zu können.
Welche Branchen stehen vor den größten Herausforderungen?
Midyatli: Wir haben in allen Bereichen einen Mangel. Verstärkt in Branchen, in denen sich Arbeitskräfte während der Corona-Pandemie umorientiert haben, weil Vieles geschlossen hatte. Diese Menschen haben festgestellt, dass es bessere Arbeitszeiten und Verdienstmöglichkeiten gibt. Das erleben wir insbesondere im Tourismus, aber auch in der Gastronomie.
Bergt: Einen Punkt möchte ich noch hinzufügen: Ich glaube, wir werden einen personellen Bottleneck in der öffentlichen Verwaltung erleben. Die Attraktivität hat gelitten. Aber sie ist immens wichtig, weil dort die Triebfeder sitzt, um beispielsweise den Ausbau von Erneuerbaren Energien voranzutreiben. Die lokalen Stadtverwaltungen wissen am besten, auf welchen Flächen was möglich ist. Wenn wir das Personalproblem nicht auf die Reihe bekommen, wird es mit dem Ausbau der Erneuerbaren schwer. Dann haben wir uns selbst einen Strick gedreht.
30-Stunden-Woche – „und zwar bei vollem Lohnausgleich“
Für viele Menschen wird die Work-Life-Balance immer wichtiger. Frau Midyatli, Sie haben 2020 vorgeschlagen, eine 30-Stunden-Woche einzuführen. Stehen Sie immer noch hinter dieser Idee?
Midyatli: Absolut. Und zwar bei vollem Lohnausgleich. Im ersten Moment hört es sich wie ein Gegensatz zum Fachkräftemangel an. Aber wir stellen fest, dass gerade dort, wo die Belastung aufgrund der Arbeitszeiten sehr hoch ist, die meisten Menschen wegrennen. Wenn man die Arbeitszeiten reduziert, steigt die Attraktivität, weil die Menschen Ruhephasen haben, die sie brauchen, um länger im Job zu bleiben. Es gibt zig Studien darüber, dass man mindestens genauso produktiv und weniger krank ist.
Bis 2030 könnten in Schleswig-Holstein mehr als 30.000 Pflegekräfte fehlen. Wie passt das mit einem 30-Stunden-Modell zusammen?
Midyatli: Jetzt denken vielleicht viele: Das kann ja wohl nicht angehen, dass die Landesvorsitzende in so einer Situation auch noch eine 30-Stunden-Woche fordert! Aber was passiert denn gerade in der Realität? Die Realität ist, dass eine medizinische Fachkraft an einem Klinikum angestellt ist, am Wochenende und in Schichten arbeitet, andere Fachkräfte krank werden. Die Arbeitszeiten sind nicht händelbar. Also gehen sie in Teilzeit – und melden sich zusätzlich bei einer Zeitarbeitsfirma an. Es ist absurd: Es gibt Beispiele, wo ein und dieselbe Person im selben Krankenhaus arbeitet. Sie arbeiten weniger, verdienen teilweise aber trotzdem genau das gleiche Geld. Mit dem Unterschied, dass das Klinikum seine Fachkraft teuer zurückkauft.
Laut Studien steigt die Produktivität bei verkürzter Arbeitszeit
Herr Bergt, was halten Sie von dem Vorschlag von Frau Midyatli?
Bergt: Es gibt Studien der Hans-Böckler-Stiftung und Experimente, die zum Beispiel auf Bornholm in Schweden durchgeführt wurden. Dabei wurde festgestellt, dass die Produktivität bei einer verkürzten Arbeitszeit zum Teil um 67 Prozent gestiegen ist. Dabei darf man ja nicht vergessen, dass man bei sechs Stunden Arbeit am Tag keinen Anspruch auf eine große Pause hat. Das ist reine Mathematik: Den freien Extra-Tag holt sich der Arbeitgeber über die Pause wieder. Und er hat sogar effektivere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele Firmen, gerade die tarifgebundenen, verstehen mittlerweile, dass das Glück der Mitarbeiter das Glück der Firma ist.
Wie viele Stunden in der Woche arbeiten Sie als Berufspolitiker?
Bergt: Ich wäre ja schon froh, wenn wir ein gutes Kinderbetreuungssystem hätten. Wir haben Kolleginnen, die frisch Mütter geworden sind und wirklich hart kämpfen müssen. Wir hatten schon einige Fraktionssitzungen, bei denen die Kinder dabei waren. Sie waren total interessiert und haben auch ihren Kommentar abgegeben. Am liebsten wenn Olaf (Bundeskanzler Olaf Scholz, Anm. d. Red.) gesprochen hat (lacht). Aber in unserem Job ist dieses Modell sehr schwierig umzusetzen. Wir hatten letztes Jahr locker drei bis vier Monate, in denen 80-Stunden-Wochen Standard waren. Das war heftig.
Midyatli: Aber ihr habt ja auch was gerissen!
Bergt: Da ging es halt zur Sache. Gerade weil wir für die Berichterstattung zum Thema Erdgas verantwortlich waren. Aber wir sind ja auch Mandatsträger, wir sind nicht angestellt. Das ist ja noch ein kleiner Unterschied. Für unsere Angestellten versuchen wir so gut wie möglich Überstunden zu kompensieren.
Arbeitswelt: Wie sich die Bedürfnisse der Arbeitnehmer verändert haben
Wie haben sich die Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Laufe der Zeit verändert?
Bergt: Sie wünschen sich viel mehr Flexibilität. Und viele wollen das machen, worauf sie Lust haben. Das ist etwas Gutes. Man bleibt viel länger bei der Sache, wenn man das macht, worauf man Bock hat.
Gerade viele junge Menschen werden belächelt, wenn sie sich in ihren Jobs selbstverwirklichen wollen.
Midyatli: Ich glaube, es gab schon immer Auseinandersetzungen mit der älteren Generation. Aus ihrer Sicht waren die Jungen schon immer faul. Ich gehöre jetzt auch zu den Alten (lacht). Ich habe mich schon vor Corona intensiv damit auseinandergesetzt, wie sich unsere Arbeitswelt verändert. Wenn du früher auf Partys gegangen bist und Leute kennengelernt hast, war das erste, was du erfahren hast, sein oder ihr Beruf und wie viele Überstunden sie machen. Du hast dich mit deiner Arbeit identifiziert. Heute erfährst du als erstes die Hobbies und wo es zum letzten Mal in den Urlaub hinging. Man möchte einen Beruf haben, neben dem man für alles andere auch noch Zeit hat.
Bengt Bergt: „Das Überstundenkonto in Deutschland ist absurd hoch“
Wie müssen Unternehmen auf die veränderten Bedürfnisse reagieren?
Midyatli: Bäcker haben Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden. Wenn alle anderen schlafen oder feiern, stehen sie in der Backstube. Mittlerweile gibt es Beispiele, die ihre Azubis später kommen lassen. Ein Handwerksbetrieb in Dithmarschen hat die Vier-Tage-Woche eingeführt. Der hat genügend Bewerbungen, wenn er eine Stelle ausschreibt. Auch klassische Jobs können attraktiv sein, wenn der Arbeitgeber mit der Zeit geht.
Bergt: Manche versuchen, den Fachkräftemangel zu nutzen, um zu zeigen, dass längeres Arbeiten und eine spätere Rente doch sinnvoll wären. Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Die Produktivität muss erhöht werden. Und das schaffst du, indem du gute Bedingungen ermöglichst. Nicht, indem du die Leute zwingst, noch länger zu arbeiten. Das Überstundenkonto in Deutschland ist absurd hoch.
Midyatli: Wir sind Weltmeister.
Heutzutage wollen viele junge Menschen nach ihrem Abschluss studieren. Wie schafft man es, wieder mehr für Ausbildungen zu begeistern?
Midyatli: Im Care-Bereich – ob es Erzieherinnen oder sozialpädagogische Assistenten sind – machen die Menschen eine drei- bis fünfjährige Ausbildung, haben aber keine Vergütung. Ich habe zwei Jungs. Einer ist jetzt 19 geworden und überlegt, was er macht: Studium oder Ausbildung? Als erstes schaut er sich seine Interessen an – und dann die Vergütung der Ausbildung. Die jungen Leute haben mittlerweile so viele Wahlmöglichkeiten. Da macht es natürlich einen Unterschied, ob du gar nichts oder eine vernünftige Vergütung bekommst. Das hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun.
Bergt: Wir haben eine Abiturientenquote von 50 Prozent. Die universitäre Quote bewegt sich ebenfalls auf die 50 Prozent zu. Das ist super, so viele gebildete Leute zu haben. Wir brauchen aber jemand, der uns den Wasserhahn anbaut.
Midyatli: Die Gesellschaft muss Respekt vor dieser Leistung haben. Man sollte sich nicht verschämt wegducken müssen, weil man nicht studiert hat. Ich habe auch nicht studiert. Ein Freund hat mich mal gefragt, wie sich das für mich so als Politikerin anfühlt, zwischen den ganzen Studierten zu sitzen. Ich habe ihn nur angeguckt und gefragt: Wie bitte? Jemand, der mein Auto reparieren kann, sollte genau die gleiche Wertschätzung erhalten. Da kann jeder von uns in der Gesellschaft seinen Beitrag zu leisten.
Fachkräftemangel: Qualifikation von Zuwanderern schneller anerkennen
Viele Experten sehen die Zuwanderung als einzige Lösung, dem Arbeitskräftemangel in Deutschland zu begegnen. Allerdings wird es Ausländerinnen und Ausländern nicht gerade leicht gemacht. Ein Beispiel: Eine geflüchtete Zahnärztin aus der Ukraine kann in Tangstedt nur als Aushilfe arbeiten, weil ihre Qualifikation nicht anerkannt wird. Sollte das Verfahren beschleunigt werden?
Midyatli: Definitiv. Schleswig-Holstein ist nicht schnell genug und die Hürden viel zu hoch. Manche müssen ihre komplette Anerkennung selbst bezahlen – und das ist teuer. Medizinisches Fachpersonal aus dem Ausland geht teilweise in andere Bundesländer, weil die Anerkennung dort schneller abläuft.
Bergt: In anderen Bundesländern gibt es Supervisionsmodelle. Da läuft ein Aspirant zwei bis drei Monate mit und kann sein Wissen nachweisen. Dann ist die Qualifikation anerkannt. Punkt. Aus. Ende. Wir haben in den Ämtern teilweise ein sehr schwieriges Denken: Sie sind eher auf Abwehr ausgerichtet als auf Integration. Das kann es nicht sein. Wenn wir nicht sicherstellen können, dass eine Person zu 100 Prozent qualifiziert ist, stellt das Wissen auf die Probe. Wo ist das Problem?
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Seit Oktober 2022 haben wir einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro. Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind nicht berücksichtigt. Ist das fair?
Bergt: Auf der einen Seite gibt es einen Betreuungsanspruch für Menschen mit Behinderung, man hat also einen Mehraufwand. Für den Staat ist es ein Zuschussgeschäft. Trotzdem leisten sie produktive und wichtige Arbeit. Die Leute haben etwas auf dem Kasten, das sollte man nicht verachten. Meiner Meinung nach gibt es überhaupt kein Hindernis, den Menschen ein gutes, faires Auskommen zu zahlen, das nicht nur wie ein Taschengeld wirkt.
Wie ließe sich das umsetzen?
Bergt: Einfach machen.