Norderstedt. Bis 2030 könnten in Schleswig-Holstein mehr als 30.000 Pflegekräfte fehlen. Was sich Schulleiterin von der Stadt wünscht.

Frau Lehmann liegt im Krankenbett. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Sie ist an einer Bronchitis erkrankt und atmet schwer. Eka von Kalben fühlt ihren Puls. Dann schlägt die Patientin – bei der es sich in Wahrheit um eine mit hochmoderner Technik ausgestattete Puppe handelt – plötzlich ihre Augen auf. „Das sieht ja furchtbar echt aus! Schon ein bisschen gruselig“, sagt von Kalben und lacht.

Die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags ist im Institut für berufliche Aus- und Fortbildung (IBAF) in Norderstedt zu Gast. Die Grünen-Politikerin lässt sich von der Schule über die aktuelle Situation in der Pflege informieren – und die ist dramatisch. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung müssen im schlimmsten Fall allein in Schleswig-Holstein bis zum Jahr 2030 mehr als 30.000 Beschäftigte in der Pflege ersetzt werden.

Fachkräftemangel: „Es brennt“ – Norderstedts Pflegeschule kämpft um Nachwuchs

Das IBAF bildet den Nachwuchs aus. Doch die Pflegeschule, die neben Norderstedt auch Standorte in Rendsburg, Lübeck und Neumünster betreibt, hat große Probleme, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. „Wir kämpfen um jeden Schüler“, sagt Gabriele Lengefeldt, Koordinatorin des Instituts. „Die Not in der Pflege ist riesig und der Bedarf an Fachkräften enorm.“

Für die generalistische Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann, die im April startet, haben sich bisher nur zehn Menschen angemeldet. Mindestens 25 sollten es werden. „Für Januar ist die Bewerberzahl schon ganz gut – trotzdem sind es natürlich zu wenig“, sagt Schulleiterin Christine Lüdecke. Für die Externenprüfung in der Altenpflegehilfe – sie ist für Menschen geeignet, die schon seit mehreren Jahren in Einrichtungen arbeiten und ebenfalls eine Ausbildung anstreben – hat sich noch niemand angemeldet. Wie so viele Branchen kämpft auch die Pflege mit einem akuten Fachkräftemangel.

Pflege: Ohne Schulabschluss ist keine Ausbildung möglich

„Wir brauchen viel mehr Menschen im System“, stellt Eka von Kalben bei ihrem Besuch in Norderstedt fest. „Jeder Mensch, der möchte, sollte im sozialen Bereich arbeiten dürfen. Das darf weder am Geld noch am Intelligenzquotienten scheitern.“

Eka von Kalben, Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags, möchte die Notlage der Pflege verbessern. Die Grünen-Politikerin hat der Pflegeschule in Norderstedt einen Besuch abgestattet.
Eka von Kalben, Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags, möchte die Notlage der Pflege verbessern. Die Grünen-Politikerin hat der Pflegeschule in Norderstedt einen Besuch abgestattet. © dpa | Christian Charisius

Gabriele Lengefeldt und Christine Lüdecke bemängeln, dass Menschen ohne Schulabschluss keine Ausbildung in der Pflege beginnen dürfen. „Es kann nicht sein, dass wir in dieser Notlage, in der wir uns befinden, immer nur auf Abschlüsse und Zertifikate pochen“, sagt Lengefeldt.

Die Koordinatorin, die das Institut in Norderstedt vor zehn Jahren gegründet hat, würde sich mehr Vertrauen in die Schulen wünschen. „Ich traue es jeder Schule zu, selbst zu entscheiden, ob eine Person kompetent ist oder nicht. Wenn das Ministerium mehr Vertrauen in uns hätte, dann gäbe es mehr Schüler in der Ausbildung.“

IBAF Norderstedt: „Migranten sollten Zugänge erleichtert werden“

Manchmal hätten schwierige Lebenswege dazu geführt, dass Menschen ihren Schulabschluss nicht gemacht hätten – das würde aber nichts über ihre Kompetenz in der Pflege aussagen, meint Lengefeldt. Ein weiteres Problem: Auch Migranten wird der Einstieg in die Ausbildung zur Pflegefachkraft erschwert. Sie benötigen einen Nachweis über das Sprachniveau B2, sie müssen also in der Lage sein, ein gehobenes Deutsch zu sprechen und komplexere Sachverhalte zu verstehen und zu erklären.

Gabriele Lengefeldt hat vor zehn Jahren das Institut für berufliche Aus- und Fortbildung (IBAF) in Norderstedt gegründet. Heute kämpft sie als Koordinatorin gegen den Mangel an Pflegekräften.
Gabriele Lengefeldt hat vor zehn Jahren das Institut für berufliche Aus- und Fortbildung (IBAF) in Norderstedt gegründet. Heute kämpft sie als Koordinatorin gegen den Mangel an Pflegekräften. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Gabriele Lengefeldt schlägt vor, dass Migrantinnen und Migranten auch noch während ihrer Ausbildung das B2-Niveau erlangen könnten. Innerhalb einer Probezeit müssten sie gute Deutschkenntnisse erlernen. „Wir müssen Migranten schneller in die Pflegeausbildung bekommen und ihnen Zugänge erleichtern“, sagt sie. Auch Christine Lüdecke ist überzeugt: „Es gäbe viel mehr potenzielle Pflegefachkräfte. Aber wir als Schule stehen vor Hürden, die wir nur schwer überwinden können.“

Norderstedter Pflegeschule betreibt hochmodernen „Skills-Lab“

Die beiden Frauen vom IBAF sind sich einig: Die Zukunft der Pflege liegt in Arbeitskräften aus dem Ausland. Wenn die geburtenstärkste Generation der sogenannten „Baby Boomer“ in den nächsten Jahren in Rente geht, ist ihr Wegfall durch jüngere Generationen nicht auszugleichen und der Fachkräftemangel verstärkt sich umso mehr. „Ohne Zuwanderung werden wir das Problem nicht in den Griff bekommen“, sagt auch Eka von Kalben.

Die Landtagsvizepräsidentin besichtigt den hochmodernen „Skills-Lab“ der Norderstedter Pflegeschule. Der 350 Quadratmeter große Raum befindet sich neben dem Schulgebäude und ist eingerichtet wie ein kleines Krankenhaus. Dort stehen drei Pflegebetten – in einem von ihnen liegt Frau Lehmann. Die Puppe kann über ein Tablet gesteuert werden. Sie hustet, schreit und erbricht sich. Die angehenden Pflegefachkräfte können an ihr üben, wie sie einen Katheter wechseln, Blut abnehmen oder einen intravenösen Zugang legen.

Landtagsvizepräsidentin Eka von Kalben will sich für Pflege starkmachen

„Das ist beeindruckend“, sagt Eka von Kalben. Die 58-Jährige betrachtet blutverschmierte Armstulpen und Silikonfüße mit künstlichen Wunden. Dutzende Utensilien wie Verbandsmaterial und Spritzen liegen in den Schränken. Von Kalben möchte sich im Kieler Landtag unbedingt dafür einsetzen, dass Einrichtungen wie das IBAF gefördert werden. Die Pflegeschule hat rund 240.000 Euro aus eigenen Mitteln in den Praxis-Raum investiert, um den Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Ausbildung zu garantieren. „Wir müssen attraktive Lernräume schaffen. Die Schüler sollen nicht nur acht Stunden in Klassenräumen sitzen und zuhören, sondern sofort handlungsfähig sein. Das macht viel mehr Spaß“, sagt Gabriele Lengefeldt.

Auch wenn das IBAF mit viel Herz und Leidenschaft versucht, die Attraktivität des Pflegeberufes zu steigern, brechen immer wieder Schüler ihren eingeschlagenen Weg ab. Im April 2020 hat der erste Jahrgang mit der generalistischen Ausbildung begonnen. Von 23 Schülerinnen und Schülern absolvieren in diesem Jahr nur zehn ihre Abschlussprüfung. Von anfänglichen 25 Auszubildenden aus dem zweiten Jahrgang, der im Oktober 2020 gestartet ist, sind 14 übrig geblieben. Anderen Pflegeschulen ergeht es genauso. Die Abbrecherquote in Schleswig-Holstein beträgt an die 24 Prozent.

Fachkräftemangel: Pflegeschule wünscht sich mehr Unterstützung in Norderstedt

„Während der Corona-Pandemie gab es Betretungsverbote, und Schüler mussten digital lernen. Sie konnten keine persönliche Verbindung zu Lehrkräften aufbauen, das hat ganz viel kaputt gemacht“, sagt Gabriele Lengefeldt. „Und sie mussten in ihren Einrichtungen arbeiten, arbeiten, arbeiten“, fügt IBAF-Schulleiterin Christine Lüdecke hinzu.

Das Image von Ausbildungen im Allgemeinen sei schlecht. „Alle wollen studieren. Aber wir brauchen auch Bäckerlehrlinge, Kfz-Mechatroniker und Tischler“, sagt Gabriele Lengefeldt. Das IBAF, das derzeit etwa 200 Schülerinnen und Schüler betreut, werde weiterhin für die Pflegebranche kämpfen und Werbung machen.

Das würde sich das Institut auch von der Stadt Norderstedt wünschen. „Wir würden gerne enger mit der Politik zusammenarbeiten. Wir wollen Gehör bekommen“, sagt Christine Lüdecke, die gerne regelmäßig im Sozialausschuss über die aktuelle Lage berichten würde. „Die Stadt sollte sich starkmachen für die Pflege. Sie hat eine Verantwortung für die Menschen, die hier leben“, findet auch Gabriele Lengefeldt: „Es brennt, und es muss dringend gelöscht werden.“