Tangstedt. Die 47 Flüchtlinge aus der Ukraine richten sich in der Tangstedter Mühle ein. Das ganze Dorf hilft. Wie man spenden kann.

Die erste Nachricht kam um 6.45 Uhr. Die nächste um 7.14, dann eine um 8.08 Uhr. Den ganzen Tag gingen Mails bei dem Tangstedter Helferkreis ein, der die Aufnahme von 47 Flüchtlingen aus der Ukraine in der Tangstedter Mühle organisiert hat.

Seit die Betroffenen am Dienstagmorgen in der Gemeinde eingetroffen sind und sich die Nachricht von ihrer Ankunft verbreitet hat, melden sich immer mehr Menschen, die den Flüchtlingen helfen möchten. Einige bringen spontan Spielsachen und Bücher vorbei, andere bieten Wohnraum an. Während ein Teil der Helfer vom Büro aus die Hilfsangebote koordiniert und Kontakt zum Amt Itzstedt hält, sind andere schon früh am Morgen wieder in der Tangstedter Mühle, um Probleme zu klären und Fragen zu beantworten.

Putins Krieg: Dometscherin floh als Kind aus der UDSSR

Als Taisija Taksijan (36) um kurz nach 8 Uhr den Speisesaal des Hotels betritt, frühstücken viele Frauen und Kinder noch. Doch als sie die Dolmetscherin sehen, lassen viele das Essen stehen und umringen die Helferin. Sie kennen die Übersetzerin bereits vom Vortag, die Anwältin hat sie bei ihrer Ankunft begrüßt und die ersten Fragen geklärt.

Taisija Taksijan ist selbst als Kind aus der UDSSR nach Deutschland gekommen und weiß, wie sich die Menschen fühlen. Als Fremde, in einem fremden Land, mit einer Sprache, die sie nicht sprechen. Für die Flüchtlinge ist sie eine Vertraute in einer fremden Welt, eine Verbindung in die Heimat. Immer wieder fragen sie, wie es weitergeht – und ob sie noch weitere Familienangehörige aufnehmen können. Auf der Flucht sind viele Familien auseinandergerissen worden, Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürften die Ukraine nicht verlassen. Sie sollen ihr Land verteidigen. Kämpfen.

Putins Krieg: Ruslan kam mit Frau und Kindern nach Tangsedt

Ruslan (36) hat eine Sondergenehmigung bekommen, um seine Frau Irina (35) und die beiden Kinder Daniiel (12) und Diana zu begleiten. Diana ist erst 10 Monate. Die Situation ist nicht leicht für ihn. Für niemanden. Jeder von ihnen hat noch Familie im Kriegsgebiet, jeder von ihnen bangt um das Leben eines Angehörigen.

Auch Nataliia Kovalenko. Die 38-Jährige ist mit ihrer drei Monate alten Tochter Erika aus Kiew geflohen, ihr Mann Erik ist „in den Krieg gezogen“, wie sie es nennt. „Mein Mann fährt jeden Tag mit humanitärer Hilfe von Ternopil nach Kiew und bringt Menschen zurück. Manche stehen an Checkpoints, andere bewachen die Straßen ihrer Heimatstädte“, sagt sie. „Es gibt Städte, aus denen die Menschen überhaupt nicht weg können. Sie haben kein Licht, kein Wasser. Und es gibt keine Verbindung zu ihnen ... Und sie sind von den Truppen der Invasoren umgeben. Jetzt tun unser Militär und unsere Freiwilligen alles, um diese Menschen an sichere Orte zu bringen.“

Nataliia Kovalenko in ihrem Hotelzimmer in Tangstedt. Sie ist mit Tochter Erika (3 Monate) geflohen. Ihr Mann Erik ist „in den Krieg gezogen“, wie sie es nennt.
Nataliia Kovalenko in ihrem Hotelzimmer in Tangstedt. Sie ist mit Tochter Erika (3 Monate) geflohen. Ihr Mann Erik ist „in den Krieg gezogen“, wie sie es nennt. © Miriam Opresnik

Putins Krieg: Nataliia betet in Tangstedt für ihren Mann in der Ukraine

An ihrem ersten Tag in Tangstedt ist sie zum Nahversorgungszentrum an der Eichholzkoppel gegangen und hat bei Edeka ein paar Kerzen gekauft, Teelichter. Abends hat sie diese in ihrem Hotelzimmer angezündet und für Erik gebetet. „Mehr kann ich nicht tun“, sagt sie. Ihr kommen die Tränen. Es ist schwer für sie, in Sicherheit zu sein, während er noch in Gefahr ist, in Kiew. Sie besitzen eine Eigentumswohnung in einem Hochhaus, in der 16. und 17. Etage, verbunden über eine kleine Treppe. Noch steht das Haus - „aber wie lange noch“, fragt Nataliia Kovalenko. Es ist keine Frage, es ist der Ausruf von Verzweiflung. Über Telegram verfolgt sie regelmäßig, wie die Situation in dem Wohnviertel ist, in dem sie lebt. Daheimgebliebene Freunde schicken ihr Fotos. „Hier“, sagt sie und zeigt auf ein Foto aus dem Supermarkt. Die Regale sind leer.

Heute, am Donnerstagabend, gibt es in der Tangstedter Kirche ein Friedensgebet, zu dem sie hingehen will. „Ist eine andere Kirche, aber Gott ist überall gleich“, sagt sie. Der Glaube gibt ihr Hoffnung. Im Moment kann sie nichts anderes für Erik tun, als beten. Heute morgen, direkt nach dem Aufstehen, hat sie ihm eine Nachricht und ein Video von Erika geschickt. Doch es kam nur eine kurze Nachricht zurück. „Keine Zeit“. Sie weiß, dass das bedeutet, dass er im Einsatz ist. Dass er keine Zeit hat. Ein paar Stunden später schickt er ihr ein Foto. Er steht steht mit einem Soldaten vor einem Pkw mit Kartons im Kofferraum. Er lächelt in die Kamera, steckt den Daumen nach oben. „Sie transportieren jetzt militärische Fracht und humanitäre Hilfe nach Kiew“, erklärt Nataliia. Sie weiß, dass der Ansturm auf Kiew kurz bevorsteht.

Putins Krieg: Geflüchtete zeigen Bilder, die undenkbar schienen

Trotzdem, oder gerade deswegen. Sie probiert zu arbeiten. Sie ist PR-Managerin, hat eine eigene Agentur. Manchmal, wenn sie darüber spricht, kommt es ihr vor, als sei das in einem anderen Leben gewesen. Sie spricht oft von früher und meint damit die Zeit vor dem Krieg. Ihr altes Leben. Es ist drei Wochen her. Unvorstellbar. Sie muss in den nächsten Tagen ihre Angestellten in der Ukraine bezahlen, sie warten auf das Geld, sie brauchen das Geld. Sie hofft, dass es die Agentur noch geben wird, wenn alles vorbei ist. Wenn sie den Krieg gewonnen haben. Das sagt sie immer wieder. Einen anderen Gedanken erlaubt sie sich nicht.

Jeder von ihnen hat eine andere Geschichte zu erzählen. Einige haben ihre Wohnungen verloren, andere arbeiteten in Fabriken, die zerstört wurden. Mit den Menschen sind die Geschichten des Krieges nach Tangstedt gekommen. Auf ihren Handys zeigen die Flüchtlinge Bilder, die in Europa undenkbar schienen. Etwa 1600 Kilometer liegen zwischen Kiew und Tangstedt, doch an diesem Morgen haben einige der Menschen das Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein.

Spaciba! Geflüchtete bedanken sich bei Tangstedter Helfern

Viele von ihnen sitzen draußen in der Sonne, trinken Kaffee, reden. Einige lächeln. Sie sehen den Kindern zu, die mit Luftballons spielen, die eine Helferin mitgebracht hat. Riesengroße, aufblasbare Ballons, ein paar Cent haben sie nur gekostet. Doch für die Kinde sind sie ein Stück Normalität in einer Kindheit, in der nichts mehr normal ist. Die Kinder lachen, kreischen, werfen die Ballons hoch und fangen sie wieder auf. Als eins der Mädchen einen der Ballons überreicht bekommt, läuft es damit fort – und kommt kurze Zeit später mit einer kleinen Tafel Schokolade wieder. Ein Geschenk für die Helferin, sie möchte damit spaciba sagen – danke.

Spaciba. Dieses Wort fällt immer wieder. Die Menschen bedanken sich, als das Frühstück abgeräumt wird und ein Helfer Obst vorbeibringt, als die Kinder Lego geschenkt bekommen und sie in der Kleiderkammer des Roten Kreuzes Anziehsachen abholen dürfen. Immer wieder fragen die Flüchtlinge die Helfer, wie sie auf Deutsch „Guten Morgen“ sagen oder „Guten Abend“, „Danke“ und „Bitte“. Für viele von ihnen ist es schwer, sich selbst als Flüchtlinge zu sehen, auf Hilfe angewiesen zu sein. Sie sagen, dass sie arbeiten gehen möchten. Nicht, damit sie Geld verdienen. Sondern, um etwas zurückzugeben. „Wir könnten Alte pflegen oder auf Kinder aufpassen“, sagt eine junge Frau, andere nicken. Alle wollen etwas tun, nur rumsitzen ist für alle schrecklich. Ein paar Frauen haben darum gebeten, einen Staubsauger, Besen und Schaufel zu bekommen. Sie möchten die Zimmer selbst sauber machen, am liebsten sogar selbst kochen.

Frühstück und Abendessen stellt das Hotel Tangstedter Mühle

Frühstück und Abendessen werden vom Hotel gestellt, die Versorgung mittags wird derzeit organisiert. Nachdem sich herausgestellt hat, dass vor allem die Kinder nicht ohne Essen vom Frühstück bis zum Abendessen durchhalten, haben Helfer über einen Aufruf in den sozialen Medien kurzfristig Obst, Joghurts und Sandwiches als Mittagsessen organisiert – und sich hilfesuchend an den Landfrauenverein Tangstedt und Umgebung gewandt. „Wir würden gerne helfen und besprechen im Vorstand die Einzelheiten“, sagt Christa Wildner vom Teamvorstand des Landfrauenvereins.

Unterdessen wird geprüft, ob und unter welchen Voraussetzungen die Kinder in die Schule oder den Kindergarten gehen können. Das Problem: In Deutschland gibt es eine Masern-Impfpflicht. „Viele Kinder sind zwar geimpft, aber die Eltern haben den entsprechenden Nachweis bei der Flucht natürlich nicht mitgenommen“, sagt Taisija Taksijan und schreibt den Punkt auf ihre Liste. Es ist einer von vielen, die es zu klären gilt. Sie werden vom Amt Itzstedt unterstützt.

Wer ist gegen Corona geimpft und mit welchem Impfstoff?

Wenn ein Problem abgeharkt ist, kommen zwei neue hinzu: Wie können die Flüchtlinge an ihr Geld in der Ukraine kommen? Woher bekommen sie SIM-Karten, um mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben? Wo können sie sich regelmäßig testen lassen und wie kommen sie dorthin? Wer ist gegen Corona geimpft und mit welchem Impfstoff, wer muss noch geimpft werden und wie organisiert man das?

Die Helfer telefonieren immer wieder mit der Kleiderkammer und dem Amt Itzstedt, organisieren einen Spielenachmittag für die Kinder und trommeln Unternehmen als Unterstützer zusammen. Viele Menschen wollen den Betroffenen helfen, immer wieder kommen Tangstedter auch persönlich vorbei und bieten ihre Hilfe an. Eine Frau bietet Wohnraum für drei Personen an, ein Mann fragt an, ob noch Übersetzer benötigt werden.

Heute wollen sie ihre Wäsche waschen, es wurde extra eine Maschine für sie aufgestellt. Es ist das erste Mal, seit sie auf der Flucht sind, dass sie Wäsche waschen können. Eine große Erleichterung. Es ist wichtig, ordentlich rumzulaufen. Auch jetzt, oder gerade jetzt. Wenn man alles verloren hat und nicht mehr viel hat, muss man darauf besonders achten, sagt Nataliia Kovalenko. Es war ein guter Tag. Aber abends, wenn die Dunkelheit kommt, ist es schwer. Dann kommt die Angst.

Wer die Flüchtlinge in Tangstedt unterstützen möchte, kann sich an folgende email wenden: tangstedtukraine@gmail.com

Spielsachen und Kleiderspenden werden NICHT benötigt. Wer direkte Hilfe leisten möchte, kann die Flüchtlinge mit einem Gutschein von Aldi, Edeka oder Budni unterstützen. Schon kleine Summen sind hilfreich.