Tangstedt. Seit 47 ukrainische Flüchtlinge in der Gemeinde eingetroffen sind, engagiert sich das ganze Dorf für die Menschen aus dem Kriegsgebiet.

Es ist kurz nach 15 Uhr, als ein paar ukrainische Kinder die Straßenkreide entdecken, die jemand für sie in die Tangstedter Mühle gebracht hat. Zuerst wissen sie nicht richtig, was sie damit anfangen müssen, doch als eine Helferin es ihnen zeigt, fangen sie an, den Weg vor dem Hotel zu malen. Sie kritzeln Sonne und Wolken auf das Pflaster, dann ein paar Blumen. Ivan (8) hat den anderen zuerst nur zugeschaut, dann greift er selbst nach der Kreide. Er malt einen dicken blauen Streifen, darunter einen gelben. Es ist die ukrainische Flagge. Spontan greift auch Daniiel (16) zu einem Stück Kreide und malt drei Buchstaben auf den Asphalt. Es ist das ukrainische Wort für Frieden.

Ein paar Mädchen haben sich mit Kreide Hinkekästchen aufgezeichnet und spielen hüpfen, als plötzlich eine Gruppe von Jugendlichen auf den Hof geschlendert kommt. Ein paar ukrainische Kinder und ihre Eltern kommen näher, vorsichtig, etwas misstrauisch. „Wohnen hier die Flüchtlinge?“, fragt einer der Jugendlichen aus Tangstedt und bittet einen der Helfer, seine Worte zu übersetzen. „Habt ihr Lust, mit uns Fußball zu spielen?“ Begeistertes Nicken, viele wollen mitkommen. Einen Augenblick wieder Kind sein, Fußball spielen, alles vergessen. Sie bleiben zwei Stunden lang weg, einige Eltern machen sich bereits Sorgen, wo die Kinder bleiben. Als sie wiederkommen, sind sie glücklich. In den nächsten Tagen wollen sie wieder zusammen spielen.

Es sind Szenen der Annäherung. Szenen von Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit. Seit am Dienstagmorgen 47 ukrainische Flüchtlinge in Tangstedt eingetroffen sind, engagiert sich das ganze Dorf für die Menschen aus dem Kriegsgebiet. Die meisten sind Frauen und Kinder, nur ein Mann ist dabei. Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen. Ruslan (37) hat eine Sondergenehmigung bekommen, weil sein Sohn schwer krank war. Er hatte Krebs. Ruslan sagt, dass er froh ist, hier zu sein, bei seiner Frau und den Kindern, in Freiheit. Froh, erleichtert und dankbar. Er probiert, keine Schuldgefühle zu haben, weil er ausreisen durfte während die anderen das Land verteidigen.

Sie hatte bis zuletzt bei ihren Eltern in Charkiw ausgeharrt

Die anderen, das sind Männer wie Erik (41) und Sergey (33). Die beiden sind Brüder. Sie haben erst die Flucht ihrer Frauen organisiert und sich dann freiwillig gemeldet. „Unsere Männer helfen jetzt zu gewinnen“, sagt Nataliia Kovalenko (36). Sie ist mit ihrer drei Monate alten Tochter Erika und ihrem Stiefsohn Daniiel (17) aus Kiew über Rumänien, Ungarn und die Slowakei nach Polen geflohen - und von dort über ein privat organisiertes Hilfsprojekt nach Tangstedt gelangt. Sie ist bereits am Dienstag in der Gemeinde eingetroffen – ihre Schwägerin Natalia (31) mit ihrem siebenjährigen Sohn Artem kam einen Tag später nach. Sie hatte bis zuletzt bei ihren Eltern in Charkiw ausgeharrt und sich mit ihnen aus Angst vor den russischen Truppen und den Angriffen eine Woche im Keller versteckt, ohne Licht, ohne Strom, ohne Wasser. Dann hat sie die Stadt, die wenige Wochen zuvor noch eine lebendige Universitätsstadt war, zum Schutz ihres Sohnes verlassen. Das Haus, in dem sie gewohnt hat, gibt es nicht mehr. „Es ist gut, in Sicherheit zu sein“, sagt sie und drückt Artem an sich. Sie hat ihn auf den Arm genommen, eigentlich ist er mit sieben Jahren viel zu alt dafür, doch sie will ihn dicht bei sich haben, beschützen. „Aber meine Seele tut weh, wenn ich an meine Familie denke.“ Ihre Eltern sind in Charkiw geblieben. Die Stadt liegt inzwischen in Trümmern.

Verzweiflung und Zuversicht – Leid und Trost. Bei den Flüchtlingen prallen Extreme aufeinander. Sie alle sind froh, in Sicherheit zu sein – aber voller Angst um ihre Angehörigen. Sie sind dankbar für die Hilfe, die sie bekommen – aber schämen sich, auf Unterstützung angewiesen zu sein. „Ich hatte Angst vor diesem Land, dieser Gegend, einem weiteren Umzug, weg von meinem Land. Aber was ich jetzt habe, ist nicht beängstigend. Es ist schön, aber trostlos“, sagt Daniiel Kovalenko (16). Er ist er mit seiner Stiefmutter Nataliia geflohen, sein Vater Erik verteidigt das Vaterland. Es sei schwer, nichts zu tun, während sein Vater kämpft, sagt Daniiel. Weil er nicht nur untätig herumsitzen will, schreibt er für das Abendblatt ein Tagebuch über seine Flucht und das Leben in Deutschland (siehe Themaseite).

Immer wieder kommen Menschen vorbei, die helfen wollen. Einige bringen Obst, andere Gutscheine für das Nahversorgungszentrum, mit denen sich die Flüchtlinge dort etwas kaufen können. Die meisten von ihnen haben kaum Geld mitnehmen können, viele kommen nicht an ihr Geld auf ihren Konten in der Ukraine.

Angesichts der Not der Menschen hat der Landfrauenverein Tangstedt und Umgebung kurzfristig die Verpflegung der Betroffenen mittags organisiert. „Die Bilder aus der Ukraine gehen an keinem von uns vorbei, daher möchten wir schnell und unbürokratisch helfen“, sagt Hildegard Larsson vom Vorstand des Landfrauenvereins. Nachdem der Vorstand seine Mitglieder über die Situation der Flüchtlinge informiert hat, haben etliche Landfrauen sofort ihre Hilfe zugesagt. Mehrmals täglich fährt ein Mitglied des Vereins zur Tangstedter Mühle, kontrolliert die Bestände und liefert kurzfristig Nachschub. Mal werden Kuchen gebracht, mal belegte Brötchen oder Obst. Nachdem die Landfrauen Kontakt zur Landbäckerei Matthiessen in Kayhude aufgenommen haben, spendet diese ab sofort abends die vom Tag übrig gebliebenen Brote und Backwaren für die Tangstedter Flüchtlinge.

Kinder sollen so schnell wie möglich zur Schule gehen

Um die Lebensmittel besser und langfristig lagern zu können, soll jetzt von bereits eingegangenen Spendengeldern ein Kühlschrank angeschafft werden. Immer wieder gehen neue Hilfsangebote ein. Eine Lehrerin möchte Deutschunterricht geben, ein Ponyhof lädt die Kinder zum Reiten ein.

Derzeit arbeitet das Helferteam mit Unterstützung des Amtes Itzstedt und der Grundschule Tangstedt daran, dass die ukrainischen Kinder und Jugendlichen so schnell wie möglich zur Schule gehen können. Ein Stück Normalität in einer Welt, in der nichts mehr normal ist.

„Die Hilfsbereitschaft der Menschen hier ist überwältigend“, sagt Nataliia Kovalenko, als sie ein paar Stunden später abends vor der Tangstedter Kirche steht. Die Kirchengemeinde hat zu einem Friedensgebet eingeladen, und viele der Flüchtlinge nehmen daran teil. Eine Dolmetscherin übersetzt die Worte von Nicola Ahrens-Tilsner. Sie zitiert aus einem Kirchenlied. Darin heißt es: „Gib Frieden, Herr, gib Frieden, die Welt nimmt schlimmen Lauf. Recht wird durch Macht entschieden, wer lügt, liegt obenauf...Gib Frieden, Herr, wir bitten! Die Erde wartet sehr. Es wird so viel gelitten, die Furcht wächst mehr und mehr.“

In einem Halbkreis stehen die Menschen vor der Tangstedter Kirche – Deutsche neben Ukrainern, Kinder aus Tangstedt neben Jugendlichen aus Kiew. Mit weißer Farbe ist auf den Boden ein riesengroßes Peace-Zeichen gemalt worden – das Symbol für Frieden und Freiheit. Als die Gemeinde das Lied Kyrie eleison (Herr, erbarme dich) nach einer Melodie aus der Ukraine anstimmt und die Anwesenden brennende Kerzen auf die Umrisse des Peace-Symbols auf dem Boden stellen, kommen einigen Menschen die Tränen.

Nataliia Kovalenko macht Fotos, sie möchte die Bilder Erik schicken. Gestern hat sie zum ersten Mal gehört, dass er geweint hat. „Das nächste und letzte Mal werde ich die Tränen meines Mannes sehen, wenn er uns abholt, um uns in seine Heimat Kiew zu bringen.“

So können Sie aktuell helfen: Damit die Kinder für einen möglichen Schulbesuch die notwendige Ausrüstung haben, brauchen sie folgende Utensilien. Karierte und liniierte Schulhefte, Brotdosen und Trinkflaschen sowie Federtaschen mit Stiften, Lineal sowie einer Schere – und wenn möglich einen Schulranzen. Bitte geben Sie die Sachen in der Tangstedter Mühle ab.