Tangstedt. Zahnärztin Svitlana Viala floh nach Tangstedt – mit wenig Hoffnung auf eine Zukunft. Doch dann erhält sie Hilfe.
Es gibt da diese Momente, in denen sie ihr Handy rausholt, durch die Fotos scrollt und sich alte Bilder anschaut. Von sich und ihrer Familie, ihrem Mann, den Kindern. Ein paar davon sind erst vor ein paar Monaten gemacht worden, doch Svitlana Viala (42) kommt es vor, als ob sie aus einem anderen Leben stammen. Weil heute nichts mehr so ist wie auf den Fotos. Sie sind Relikte einer vergangenen Zeit. Manchmal hat sie Angst, dass es nie wieder so sein wird wie auf den Fotos. Denn die Welt, die die Bilder zeigen, gibt es nicht mehr. Ihre Heimatstadt Kiew wird von den Russen belagert, ihr Mann harrt in der umkämpften Hauptstadt weiter aus. „Er sagt mir nicht, was er dort macht“, sagt Svitlana. Er will ihr keine Angst machen. Sie weint jetzt schon jedes Mal, wenn sie mit ihm telefoniert.
Manchmal, wenn Svitlana mit den abgespeicherten Fotos in ihrem Smartphone die Erinnerung heraufbeschwört, bleibt ihr Blick auch an Bildern von Zähnen hängen. Es sind Vorher- und Nachher-Bilder. Vorher mit riesigen Löchern, krumm und schief. Nachher perfekt gefüllt, glänzend und gerade. Die Bilder zeigen die Zähne ihrer Patienten, dokumentieren ihre Arbeit. Svitlana Viala ist Zahnärztin, seit 19 Jahren arbeitet sie in dem Job. Sie liebt die Arbeit. „I love my Job“, sagt sie. Sie mochte es, wenn sie Menschen helfen konnten, die Schmerzen hatten. Heute helfen andere ihr.
Die Situation ist nicht leicht für Svitlana. Sie möchte so schnell wie möglich wieder arbeiten. „Aber wie soll das gehen, wenn ich kein Deutsch spreche“, sagt sie – auf Englisch. Sie ist froh, dass sie sich wenigstens so etwas verständigen kann, die meisten Flüchtlinge in der Tangstedter Mühle sprechen nicht einmal das. Trotzdem, oder gerade deswegen: Sie will so schnell wie möglich Deutsch lernen. Sie glaubt nicht, dass sie bald zurück in die Ukraine kann.
Als Jens Kleinschmidt vor ein paar Tagen in der Tangstedter Mühle nach der Zahnärztin fragt, ist Svitlana zunächst verwirrt. Sie hat den Mann schon ein paar Mal gesehen, er ist fast jeden Tag hier, um zu helfen. Mal bringt er Bälle für die Kinder vorbei, mal fährt er die Flüchtlinge zum Covid Test nach Duvenstedt. Doch Svitlana kann sich nicht vorstellen, was der Herr ausgerechnet von ihr möchte. Jens Kleinschmidt ist zweiter Bürgermeister von Tangstedt, „aber hier bin ich einfach als Privatperson. Als jemand, der helfen möchte“, sagt Kleinschmidt. Manchmal fragt er, was es zu tun gibt. Manchmal macht er aber auch einfach. So wie bei Svitlana.
Als er erfahren hat, dass es eine Zahnärztin unter den Flüchtlingen gibt, hat er kurzentschlossen den Zahnarzt in Tangstedt kontaktiert und angefragt, ob Svitlana einfach mal vorbeikommen könnte, um sich vorzustellen. Kleinschmidt geht die Dinge direkt an, er hält nicht viel davon, lange rumzuschnacken. Deswegen wartet er auch nicht lange ab, als die Praxis von Dr. Hamid Basefat Nazari grünes Licht gibt. Er geht direkt zur Mühle und fragt Svitlana, ob sie den hiesigen Zahnarzt kennenlernen möchte. Wann, fragt Svitlana. Kleinschmidt nennt drei Termine, einer ist schon heute, eigentlich könnten sie sofort kommen.
Svitlana fragt nach. Sie glaubt, etwas falsch verstanden zu haben, doch Kleinschmidt nickt immer wieder. Ja, ja, richtig. Zusammen machen sich die beiden auf den Weg in die Praxis, es sind nur ein paar Hundert Meter von der Mühle aus. Svitlana ist aufgeregt. Gestern hat sie mit einer der Übersetzerinnen einen Lebenslauf geschrieben – doch sie hätte nie gedacht, ihn so schnell zu brauchen. Als sie vor der Praxis von Dr. Basefat steht, atmet sie einmal tief durch, dann betritt sie die Räume an der Hauptstraße. Hamid Basefat Nazari kommt persönlich, um sie zu begrüßen und führt sie in sein Büro. Als Svitlana sich für ihre Sprachprobleme entschuldigt, beruhigt er sie. Er weiß, wie das ist. Er ist selbst aus dem Iran nach Deutschland gekommen, ohne die Sprache zu sprechen. „Ich musste das Land verlassen, weil ich nicht in den Krieg wollte“, sagt der Mediziner. 37 Jahre ist das jetzt her, doch Basefat hat nie vergessen, wie es ihm damals ging. Fernab der Heimat, die plötzlich nicht mehr seine Heimat war. In einem fremden Land, einer fremden Kultur. Aus diesem Grund möchte er Svitlana jetzt helfen, schnell und unkompliziert.
Als seine ukrainischen Kollegin fragt, wie und wo sie ihre Approbation für Deutschland beantragen kann, winkt er ab. Er will sich persönlich darum kümmern und Kontakt mit der Kassenärztlichen Vereinigung und der Zahnärztekamme aufnehmen. Er bietet Svitlana an, ein Praktikum bei ihm zu machen, bis die Formalitäten geregelt sind. Bis sie ihre staatliche Zulassung erhalten hat. Im Approbationsverfahrens wird die Gleichwertigkeit des jeweiligen Abschlusses mit dem deutschen Abschluss überprüft.
Svitlana Viala ist überwältigt, als alles ganz schnell geht
Als die ukrainische Zahnärztin aus der Praxis kommt, bleibt sie vor dem Haus kurz stehen. „Ich kann es nicht glauben“, sagt sie immer wieder, zuerst auf Englisch. Dann tippt sie ein paar Wörter auf ukrainisch in ihr Handy, damit man sie auch wirklich versteht. „Ich bin überwältig.“ Dr. Basefat hat sie gebeten, ihr Diplom zu kopieren, damit er die Unterlagen einreichen kann. Kleinschmidt, der während des Gespräches auf sie gewartet hat, bietet sofort seine Hilfe an. Er kann die Dokumente im Rathaus kopieren, jetzt gleich. Dann können sie noch heute in die Praxis gebracht und alles in die Wege geleitet werden.
Svitlana bittet darum, mitkommen zu können. Sie möchte das Rathaus einmal von innen sehen. Seit sie in der Tangstedter Mühle lebt, hat sie sich oft gefragt, wie es im Rathaus wohl von innen aussieht. Tangstedt fasziniert sie, Hamburg überwältig sie. „Es ist ganz anders als in Kiew“, sagt sie und erzählt von ihrer Wohnung, im 16. Stock eines Hochhauses. „Alle Häuser sind dort so hoch“, sagt sie, stutzt dann aber. Sie waren so hoch. Von einigen stehen nur noch Gerippe. Für Svitlana ist Jens Kleinschmidt ein Held. Jemand, der ihr einen Weg aus der Perspektivlosigkeit aufgezeigt hat. Als sie hört, dass er der zweite Bürgermeister von Tangstedt ist, wird sie ehrfürchtig. „Sie sind der Klitschko von Tangstedt?“, fragt sie immer wieder. Vitali Klitschko ist der Bürgermeister von Kiew, eine ukrainische Symbolfigur. Viele Ukrainer verehren ihn.
Svitlana möchte gerne ein Foto mit Kleinschmidt machen und es ihrem Mann schicken. Ihr Mann hat sie immer unterstützt, in den letzten Jahren ist er zuhause geblieben und hat sich um die Kinder gekümmert, damit sie arbeiten gehen kann. Diana (8) und Volodymyr (12) vermissen ihren Vater. Ihr Sohn hat den gleichen Vornamen wie der Präsident des Ukraine, Selenski. Aber sie hat Volodymyr nicht deswegen so genannt. Es ist der Name seines Vaters.
Als sie ihm am Abend von der Chance erzählt, bei einem Zahnarzt zu arbeiten, bestärkt er sie, macht ihr Mut. Es ist das erste Mal, seit Svitlana aus der Ukraine geflohen ist, dass sie Hoffnung hat. Die Angst ist immer noch da, aber nicht mehr diese Aussichtslosigkeit, die sie in den letzten Tagen oft verzehrt hat.
Nicht einmal 24 Stunden später bekommt sie das Angebot, sich bei einem weiteren Zahnarzt vorzustellen.
Dann ruft die Praxis von Dr. Basefat an. Sie kann Montag in einer Woche das Praktikum beginnen – genau vier Wochen, nachdem sie im polnischen Krakau in einen Bus Richtung Tangstedt gestiegen ist.