Leezen. Prozess um die bei einem Unfall nahe Leezen getötete 16-Jährige: Wie der Angeklagte vor Gericht sein Schweigen brach.
Ein 20-Jähriger fährt betrunken Auto, schleudert in einen Graben, das Auto wird zurück auf die Bundesstraße 432 bei Leezen katapultiert, trifft den Linienbus der Autokraft auf dem Weg nach Bad Segeberg und erschlägt darin eine 16-Jährige Schülerin. Der unfassbare Unfall am 24. Oktober 2020 wird derzeit vor dem Jugendschöffengericht in Bad Segeberg strafrechtlich aufgearbeitet.
Beim zweiten Verhandlungstag drehte sich alles um die Frage, wie betrunken der heute 22-jährige Angeklagte F. damals war. Hätte er den Unfall verhindern können, wenn er nüchtern gewesen wäre? Der Verhandlungstag gestaltete sich lang und unergiebig. Im Gerichtssaal machten die meisten Zeugen von ihren Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Prozess Bad Segeberg: „Alle Lebensfreunde verloren – das ist meine größte Strafe“
Diplom-Ingenieur Boris Ivens, Gutachter des Dekra Hamburg, zeichnete in seiner Aussage zum Unfallhergang ein Bild des Grauens. Der Angeklagte F. sei mit einem Passat Kombi mit etwa 102 Stundenkilometern auf dem Tacho von der Straße abgekommen, er habe in der abschüssigen Böschung zwei Bäume gestreift, bevor er gegen den dritten Baum geprallt sei. Das Auto habe abgehoben, sich gedreht und sei mit dem Heck in den Linienbus geflogen.
Die Fahrgeschwindigkeit sei bei guter Sicht und trockener Fahrbahn nur zwei Kilometer höher als erlaubt gewesen. Doch auch eine geringere Geschwindigkeit hätte den Unfall wahrscheinlich nicht verhindern können. Er bescheinigte dem Unfallfahrer aber ein Reaktionsdefizit. Hätte F. bereits beim Abkommen von der Fahrbahn reagiert, wäre es nicht zu einem so schwerwiegenden Unfall gekommen, führte der Gutachter aus.
Party mit Fußballkumpels: Sechs Cola-Korn auf dem Deckel
Der Angeklagte F. hatte vor dem Unfall mit Freunden aus dem Fußballverein des Leezener SC gefeiert. Der Wirt des Sportlerheims, Rifat G., gab als erster Zeuge einen Einblick in die Gepflogenheiten der Fußballmannschaft. Bei Heimspielen würde ein Kasten Bier in die Umkleide gestellt. Er selbst habe am Spielfeldrand Getränke und Essen verkauft. Der Angeklagte F. sei von anderen Spielern geärgert worden, weil er sich in der Aufwärmphase verletzt habe und nicht spielen konnte.
Im Sportlerheim habe dieser eine „Runde“ ausgeben müssen. Sechs Cola-Korn hätten auf dem „Deckel“ des Angeklagten gestanden. Ob dieser selbst davon getrunken habe, vermochte der Wirt aber nicht zu sagen.
Prozess: Staatsanwältin rüffelt Richter
Nachdem der zweite Zeuge die Aussage verweigert hatte, handelte sich Jugendrichter Tobias Kleinmann einen Rüffel von Staatsanwältin Lisa Geldschläger ein. Nach ihrem Geschmack sei der Richter bei seiner Belehrung zum Aussageverweigerungsrecht zu offensiv vorgegangen und hätte den Zeugen nahegelegt, besser von diesem Recht Gebrauch zu machen.
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Als zwei weitere Zeugen ihre Aussage ebenfalls verweigert hatten, fanden offenbar auch die Verteidiger des Angeklagten, mit ihrer Zeit besseres anfangen zu können. „Ein Zeuge nach dem anderen fällt um wie ein Dominostein“, sagte Verteidiger Hont Hetényi, der das Verfahren gerne abgekürzt hätte, was nach einem gemeinsamen Rechtsgespräch von Richter, Schöffen, Staatsanwältin und Verteidigern aber nicht geschah.
Zeugen bestätigen: Der Angeklagte war betrunken
Dem neunten Zeugen, der das Sportgelände weit vor dem Angeklagten verlassen hatte, billigte Richter Kleimann das Aussageverweigerungsrecht nicht zu. Tobias N. (26) sagte aus, mit dem Angeklagten in der Umkleide mindestens zwei Flaschen Bier und später im Sportlerheim ein weiteres gezapftes Bier getrunken zu haben. Richter Kleimann las aus der Akte vor, dass es drei Flaschen Bier gewesen sein sollen. Der Bruder des Zeugen hatte in einer fernmündlichen Aussage mitgeteilt, dass der Angeklagte, laut Aussage seines Bruders, völlig betrunken gewesen sein soll.
Jugendgerichtshelfer Stephan Zeisler-Michelson schilderte den Angeklagten als offenen, aber seit dem Unfall sehr zurückgezogen lebenden jungen Mann, auf den das Jugendstrafrecht angewandt werden sollte. Mit fünf Jahren habe er angefangen, Fußball zu spielen, habe sogar in der Landesauswahl SH gekickt.
Angeklagter F.: Unfall wird ihn sein Leben lang beschäftigen
Seit dem Unfall nehme F. nicht mehr als Geselligkeiten teil. Er kämpfe mit sich und würde die Last des Unfalls ein Leben lang tragen. Der Jugendgerichtshelfer bot dem Angeklagten an, mit ihm zusammen zu dem Grab der verstorbenen Jugendlichen zu gehen und regte an, dass er sich an den Kosten für die Liegegebühr auf dem Friedhof beteiligen sollte.
Nachdem am ersten Verhandlungstag noch der Rechtsanwalt des Angeklagten ein Statement verlesen hatte, äußerte sich der Unfallfahrer am Ende des zweiten Verhandlungstages erstmals selbst: Er habe seine Stärke und seine Lebensfreude verloren und werde sein ganzes Leben mit dem Unfall zu tun haben. „Das ist meine größte Strafe.“
Vor einem Monat habe er eine Psychotherapie begonnen, zuvor habe er privat Therapiegespräche geführt. Fußball habe er seit dem Unfall nicht mehr gespielt. Kontakt zu den Eltern der Verstorbenen habe er noch nicht aufgenommen. „Ich möchte erst das Gerichtsverfahren abschließen.“
Der Prozess wird am Donnerstag, 18. August, ab 9.30 Uhr mit den Plädoyers von Verteidigung und Staatsanwaltschaft sowie der Verkündung des Urteils fortgesetzt.