Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum eröffnen am Sonnabend „Die Waagschale“. Das Abendblatt begleitet die Gründerinnen.

Jede Nacht liegt das Handy neben dem Bett. Jede Nacht schreckt Kathrin Kahnert (40) hoch, manchmal zwei oder dreimal, tastet nach dem Telefon auf dem Nachttisch und fängt an, Wörter einzutippen. Es sind Erinnerungen. Sachen, die ihr plötzlich durch den Kopf schießen: Notausgänge kennzeichnen. Rauchmelder überprüfen. Schilder (welche) aufhängen. Es sind Sachen, die dringend erledigt werden müssen. Vorher.

Unverpackt-Laden: Noch neun Tage bis zur Eröffnung

Es sind die letzten Tage vor jenem Tag, auf den sie fast ein Jahr lang hingearbeitet hat. Ein Jahr lang! Zwölf Monate. In der Erinnerung verschwimmt die Zeit. Manchmal schrumpft sie auf Monate, manchmal dehnt sie sich zu einer Ewigkeit aus. Es gibt Momente, da hat Kathrin Kahnert das Gefühl, dass sie doch gerade erst den Entschluss gefasst hat, in Norderstedt einen Unverpackt-Laden zu eröffnen. Dass sie ihr Vorhaben im Internet erst vor Kurzem publik machte und darüber Nadia Mispelbaum (38) kennenlerne. Und dann wiederum gibt es Momente, wo es ihr so vorkommt, als ob das alles schon ewig her sei. Weil sie das Gefühl hat, Nadia schon ewig zu kennen.

In den vergangenen Monaten haben sie mehr Zeit miteinander verbracht als mit ihren Ehemännern und Kindern. Sagen sie. Seit sie vor acht Wochen ein leerstehendes Bettengeschäft an der Ulzburger Straße übernommen haben, arbeiten sie meist bis spätabends. Wenn sie nicht gemeinsam im Laden sind, telefonieren sie. Gefühlt 1000 Dinge müssen noch besprochen und entschieden werden.

"Die Waagschale" ist Teil ihrer Lebenseinstellung

Vor ein paar Tagen wurden die Bins montiert. Große Glaszylinder, aus denen sich die Kunden selbst die Ware in mitgebrachte Gefäße füllen können. Sie hängen an der Längsseite des Verkaufsraumes, je zwei untereinander, auf einer Länge von knapp acht Metern. Noch sind sie leer, staubig vom Schleifen im Laden. Heute Nachmittag wollen sie alle spülen und dann mit Nudeln, Haferflocken, Reis und Mehl befüllen. Es sind 67 Stück.

Im Laden riecht es nach Holz und Farbe, nach Baustelle. Nach Abriss und Neuanfang. Bis zuletzt wurde gehämmert und gesägt, gestrichen und gebastelt. Die Möbel hat Kathrins Mann gebaut. Er ist Feuerwehrmann und konnte sich frei nehmen. Als er vor ein paar Tagen wieder zur Arbeit gegangen ist, hat er sich gefreut. „Er meinte, dass es dort entspannter ist als die letzten Wochen im Laden“, sagt Kathrin und lacht. Sie alle haben in den letzten Wochen ihre ganze Energie in „Die Waagschale“ gesteckt.

Der Name steht seit ein paar Tagen an der Schaufensterfront. Die Waagschale. Für sie ist das mehr als ein Name. Mehr als ein Symbol für die Waren, die bei ihnen abgewogen und dann bezahlt werden. Es ist ein Teil ihrer Lebenseinstellung, ihrer Philosophie. Dass die Umwelt nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten darf. Dafür leben sie, dafür stehen sie. Der Laden ist für sie mehr als ein Einzelhandelsgeschäft, mehr als eine Marktlücke. Mehr als ein Job und Geld verdienen.

Es ist ihre Art, einen Beitrag zu leisten. Etwas zu bewegen und die Welt ein bisschen besser zu machen. „Wir hoffen, dass wir auf diese Weise auch andere von unseren Ideen überzeugen können“, sagt Nadia Mispelbaum, die vor der Gründung ihres eigenen Ladens lange bei Stückgut in Ottensen gearbeitet hat. Sie beschäftigt sich schon seit Jahren mit Umweltschutz und Müllvermeidung, lange bevor die aktuelle „Fridays for Future“-Bewegung geboren war.

Noch sieben Tage bis zur Eröffnung

Während der Umbauphase hing im Schaufenster ein Plakat mit Zero-Waste-Tipps. Mit Ratschlägen, wie sich Müll im Alltag vermeiden oder verringern lässt. Mit Getränken in Glas statt in Plastikflaschen, waschbaren Putzlappen statt Küchenpapier. Und mit dem Kauf von Second-Hand-Produkten. In den vergangenen Wochen haben sie viel Zeit damit verbracht, im Internet gebrauchte Sachen für den Laden aufzutreiben. Nicht, um Geld zu sparen. Sondern, um keine Ressourcen zu vergeuden. „Warum sollen wir etwas neu kaufen, wenn es das gebraucht gibt? Warum etwas wegschmeißen, das andere noch weiternutzen können?“, so die Gründerinnen. Es ist keine Frage. Es ist ein Statement. Ihren Schreibtisch haben sie einer Frau aus Hamburg abgekauft, die beiden Anrichten einer anderen Frau nur ein paar Straßen weiter. Die Getreidemühle ist aus Bad Homburg vor der Höhe und die Kaffeemühle aus Bielefeld. Ein Freund hat sie von dort für sie mitgebracht. Extra hingefahren wären sie dafür natürlich nicht. Sogar die DIN-A4-Ordner und die Geschirrtücher sind Second Hand.

Das Prinzip der Wieder- und Weiterverwertung wollen sie auch in ihrem Laden umsetzen und dort Sammelbehälter für Weinkorken, Flaschendeckel und Wachsreste aufstellen. „Fast jeder schmeißt das weg, ohne zu wissen, dass alles noch gebraucht werden kann“, sagt Nadia Mispelbaum und erklärt, dass aus Wachsresten neue Kerzen gemacht und aus Korken Kunstwerke entstehen. Sogar alte Mobiltelefone werden sie für den Naturschutzbund Nabu sammeln. Das Motto „Handys für Hummeln“.

Noch fünf Tage bis zur Eröffnung

Immer wieder klingelt bei einer der beiden das Handy. Immer wieder gibt es Fragen zu beantworten und Probleme zu klären. Immer wieder klingelt der Postbote, immer wieder bleiben Passanten vor dem Schaufenster stehen und spähen hinein. Bald ist es soweit. Schon zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung am Sonnabend wollen sie Probe-Einkäufe für ihre Familien und Freunde veranstalten. Um reibungslose Abläufe zu üben. Das Kassensystem ist von einer Hamburger Firma, zwei kurze Schulungen hatten sie bereits. Trotzdem haben sie Sorge, dass ausgerechnet bei der Eröffnung etwas schiefgehen könnte. Dass ein Artikel nicht gefunden werden kann oder die Kartenzahlung nicht funktioniert. Sie wollen gar nicht dran denken. Mit den Gedanken ist das so eine Sache. Sie lassen sich nicht steuern.

Es gibt Tage, und vor allem Nächte, da schleichen sie sich unerwartet ein und lassen sich kaum vertreiben. Gedanken wie: Wie soll das bloß werden? Mit einem eigenen Laden, in dem eine von ihnen immer sein muss – in den ersten Wochen sogar beide zusammen. Mit ihren Familien, den Kindern. Jede von ihnen ist Mutter. Jede von ihnen fragt sich manchmal, wie sie das alles schaffen sollen. Und ob es sie zu schlechteren Müttern macht, wenn sie so viel arbeiten? Es ist nicht leicht, darüber zu reden. Vermutlich gibt es einige, die genau das über sie denken. Dass sie Rabenmütter sind. Manchmal denken sie das ja fast selbst. Wenn so eine fiese Stimme im Kopf ihnen ein schlechtes Gewissen macht, dass sie die einzigen sind, die sich nicht um das Abschlussfest der Kinder in der Schule kümmern.

Aber davon wollen sie sich nicht runterziehen lassen. Im Gegenteil: Sie wollen sich starkmachen, auch für andere Mütter. Die in der gleichen Situation sind. Die zwischen Job und Familie hin- und hergerissen sind. Die beides machen möchten und manchmal das Gefühl haben, keinem davon gerecht zu werden. Dennoch: Sie wollen den Weg gehen! Trotz ihrer Familien, oder gerade deswegen. „Wir haben die Entscheidung ja nicht allein getroffen, sondern gemeinsam mit unseren Familien. Und gemeinsam schaffen wir das jetzt auch“, so die Devise von Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum.

Sie sind offiziell die Inhaberinnen und Geschäftsführerinnen der GmbH, doch der Laden ist ein Familienbetrieb. Kathrins Mann hat die Möbel gebaut, Nadias Vater die Großküche aufgestellt. Nadias Kinder finden es super, was ihre Mutter macht, Kathrins Töchter sind einfach nur stolz. Die Zwillinge hatten mit ihrer Mutter vor einem Jahr vereinbart, als Familie mehr auf Plastik zu verzichten – und Kathrin Kahnert so auf die Idee mit dem Unverpackt-Laden gebracht.

Noch drei Tage bis zur Eröffnung

Endlich! Wenn sie über die Eröffnung sprechen, fällt dieses Wort immer wieder. Endlich sind die Monate der Ungewissheit vorbei, in denen nicht klar war, ob sie den Laden nach ihren Plänen umbauen können und eine Nutzungsänderung vom Bauamt bekommen. Endlich müssen sie nicht mehr nur vom Schreibtisch aus agieren, sondern können direkt vor Ort sein, direkt bei den Kunden. Endlich! „Ich freue mich riesig, die ersten Kunden zu begrüßen“, sagt Kathrin Kahnert. Für sie ist das alles Neuland, sie hat in den vergangenen 15 Jahren im Büro gearbeitet. „Ich möchte vor allem die Leute ansprechen, für die das Thema Unverpackt und Zero Waste noch genauso neu ist wie für mich selbst bis vor Kurzem.“

Ihr Motto: Es geht nicht darum, perfekt zu sein! Viele kleine Änderungen können in Summe Großes bewirken. „Bei uns muss keiner Angst haben, sich lächerlich zu machen. Ich weiß selbst noch genau, wie es mir ging, als ich das erste Mal in einem Unverpackt-Laden war und nicht wusste, ob ich dort einfach meine Tupper-Schüsseln rausholen darf, und wie man alles abfüllt.“ Ein Jahr ist das her. Damals hätte sie nie gedacht, selbst mal einen Laden zu haben. Am Nachmittag hat die Tochter einer Freundin die Scheiben des Ladens mit weißer Fensterkreide bemalt.

Noch zwei Tage bis zur Eröffnung: Die Zeit scheint zu springen

Monatelang wussten sie nicht, ob sie den geplanten Eröffnungstermin Anfang Juni einhalten können, weil sie wegen Verzögerungen bei der Nutzungsänderung lange hinter dem Zeitplan waren. Bis sie den Verzug irgendwann aufgeholt hatten. Doch jetzt, zwei Tage vor der Eröffnung, müssen noch tausend Sachen erledigt werden. Die letzten Bins müssen befüllt und Etiketten dafür gedruckt, Kartons mit Ware ausgeräumt und das Altpapier entsorgt werden.

Seit drei Wochen haben sie eine Praktikantin, die sie unterstützt. Ja, wirklich, eine Praktikantin. Als solche hat sie sich zumindest beworben. Auch wenn ihnen das selbst manchmal komisch vorkommt, sie so zu nennen. Es ist eine Gleichgesinnte, die sie bei ihrem Vorhaben unterstützen möchte. Kathrin und Nadia hoffen, sie irgendwann einstellen zu können. Genug zu tun gibt es.

Sobald sie im Laden sind, scheint die Zeit zu springen. In der einen Minute ist es 10 Uhr, in der nächsten plötzlich schon 12, dann 15 und auf einmal 23 Uhr. Heute Morgen ist die Marmelade geliefert worden. Von der Firma „Frau Frucht und Herr Gemüse“ aus Kayhude. Es ist einer von vielen regionalen Partnern, mit denen sie zusammenarbeiten. Genauso wie Frau Kierse, von der sie hausgemachten Eistee beziehen, oder Honig aus Ahrensburg. Im Eingang stapeln sich Kartons, die ausgepackt werden müssen. Und das Kartenlesegerät geht auch noch nicht. Nur noch ein paar Stunden, dann kommen die ersten Testkäufer. Zum Glück nur Freunde und Familie. Morgen wird es ernst. Dann öffnen sie für ein paar Unterstützer ihrer Crowdfunding Aktion. Insgesamt 230 Menschen hatten ihr Vorhaben im Internet finanziell unterstützt und im Gegenzug Startersets mit Gläsern, Baumwolltaschen – oder Gutscheine für ein Early Bird Shopping erhalten. Insgesamt 14.626 Euro kamen bei der Crowdfunding Aktion zusammen.

Noch ein Tag bis zur Eröffnung – ein unbeschreibliches Gefühl

Nichts! Nichts kann beschreiben, wie sie sich an diesem Morgen fühlen. In 24 Stunden ist es soweit. Um punkt 10 Uhr wollen sie für die Kunden öffnen. Sie fragen sich, wie viele wohl kommen werden. Ein paar dürfen heute schon einkaufen. Irgendwann im Laufe des Vormittages kommt auch der Lebensmittelkontrolleur vom Gesundheitsamt. Er guckt sich alles an, nickt ein paar Mal. Alles in Ordnung!

Die letzten Stunden des Tages erleben sie wie in einer Blase. Fast mechanisch erledigen sie alles, was noch zu erledigen ist, sind mit den Gedanken aber schon beim morgigen Tag. Ein letztes Mal rücken sie die Gläser gerade, polieren den Tresen, ordnen die Einkaufskörbe neben dem Eingang und gießen die Blumen vor der Ladentür. Fertig. Sie sind bereit.

„Die Waagschale“ an der Ulzburger Straße 605 öffnet am heutigen Sonnabend von 10 bis 14 Uhr. Danach gelten folgende Öffnungszeiten: Montag, Mittwoch und Freitag von 9 bis 18 Uhr, Dienstag von 8 bis 18 Uhr, Donnerstag von 9 bis 19 Uhr. Sonnabends von 9 bis 14 Uhr.