Norderstedt. Viele kleine und große Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben.
Hunderte von Autofahrern sehen die schmale Steinsäule täglich, wenn sie die Straße Am Brüderhof an der Ortsgrenze Norderstedt/Henstedt-Ulzburg unweit der Schleswig-Holstein-Straße befahren. Welche Bedeutung der unscheinbare Stein hat, weiß heute kaum noch jemand: Seit zehn Jahren erinnert eine Stolperstele, geschaffen von dem Nordersteder Bildhauer Thomas Behrendt und aufgestellt vom Norderstedter Kulturverein Chaverim – Freundschaft mit Israel, an eine Einrichtung, die im Laufe der Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Der Kibbuz Brüderhof war in den Jahren von 1933 bis 1939 unter Aufsicht der Nationalsozialisten eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte der zionistischen Jugendorganisation Hechaluz. Wo viele Jahre später Menschen mit geistigen Behinderungen lebten, wurden in den 1930er-Jahren junge Juden auf die sogenannte Alijah, die Ausreise nach Palästina, vorbereitet.
Die Einrichtung, die auf dem Gebiet der damals noch zum Kreis Stormarn gehörenden Gemeinde Harksheide lag, wäre vermutlich endgültig in Vergessenheit geraten, wenn nicht der Diakon Sieghard Bußenius vor 40 Jahren während eines Forschungsseminars zur Geschichte des Rauhen Hauses im Nationalsozialismus auf dieses Thema gestoßen wäre.
Nicht klar war zu diesem Zeitpunkt allerdings, worum es sich wirklich handelte: Eine Art freiwilliges Hilfswerk der evangelischen Stiftung Das Rauhe Haus oder aber eine Art Abschiebelager der Nationalsozialisten. In Schleswig-Holstein befanden sich neben der Einrichtung im Harksheider Zwickmoor noch der Kibbuz Jägerslust bei Flensburg, weitere Einrichtungen gab es in den Hamburger Stadtteilen Rissen und Blankenese.
Brüderhof in Harksheide war kleines Moorgut
Sieghard Bußenius fand bei seinen umfangreichen Recherchen heraus, warum die Nationalsozialisten derartige Ausbildungsstätten duldeten. Dabei stützt der 66-Jährige sich auf einen geheimen Bericht unter dem Titel „Die Judenfrage“ des Reichsführers SS, der aus dem Mai/Juni 1934 stammt. Darin wird der Stand der Umschulung von Juden in der Landwirtschaft beschrieben und vermerkt: „Gegen eine solche Umschulung ist nichts einzuwenden, wenn sie in geschlossenen Gruppen und im Hinblick auf eine spätere Auswanderung geschieht. Sie muss verhindert werden, wenn sie einzeln in deutschen Dörfern erfolgt und eine Ansiedlung in Deutschland vorbereiten soll.“
Unter diesen Umständen waren nationalsozialistische Behörden also bereit, die Tätigkeit des Hechaluz im Deutschen Reich zu dulden, beobachtete sie jedoch argwöhnisch. In einigen Veröffentlichungen, zum Beispiel im jüdischen Online-Magazin „haGalil“, aber auch in dem Buch „Bauern, Siedler, Flüchtlinge, der Norderstedter Raum 1935–55“, das die Mitarbeiter der Norderstedter Geschichtswerkstatt im Jahr 1989 herausgegeben haben, beschäftigt sich Sieghard Bußenius ausführlich mit diesem Thema.
Der Brüderhof war zunächst ein kleines Moorgut, das vom Rauhen Haus in den 20er-Jahren während der Inflationszeit gekauft worden war, um dort Torf für die Beheizung der Anstalt zu gewinnen. Später, etwa im Jahr 1927, waren dort 60 junge Arbeitslose in vier Baracken untergebracht, die das Land urbar machen sollten.
50 junge Menschen lebten auf dem Brüderhof
Weil das Rauhe Haus schon im Januar 1934 einer „staatspolitischen, völkisch-nationalsozialistischen Erziehung“ in der Anstalt zustimmte, konnte eine drohende Verstaatlichung der Erziehungsarbeit verhindert werden. Die „Reichsvertretung der deutschen Juden“ erhielt vom NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse 1934 die Genehmigung, auf dem Harksheider Brüderhof-Gelände eine Unterkunft für 50 junge jüdische Schulungspersonen einzurichten. Die Reichsvertretung, im Jahr 1935 nach den Nürnberger Rassegesetzen in „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ umbenannt, vermietete den Brüderhof an die zionistische Jugendorganisation Hechaluz. Der Hechaluz war nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden, um jüdische Jugendliche nach sozialistischen Idealen für ein Pionierleben in Palästina auszubilden.
Zunächst kaum beachtet, nahm der Hechaluz im Jahr 1933 Fahrt auf, nachdem die judenfeindlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten offensichtlich wurden. Unzählige Jugendliche suchten Rat und Hilfe beim Hechaluz – zumeist junge Juden, die kaum noch religiös und an ihre deutsche Heimat assimiliert waren. Sie sahen sich plötzlich nach der Machtübergabe durch die Nazis aus ihrer Berufs- und Lebensbahn geworfen.
Einreise-Zertifikate vergab das Palästina-Amt
Zur körperlichen und geistigen Vorbereitung auf eine Auswanderung schuf der Hechaluz seit den 20er-Jahren kollektive Ausbildungsstätten, um die Menschen auf die Verhältnisse im damaligen Palästina durch harte Arbeit im Handwerk oder in der Landwirtschaft, das gemeinschaftliche Leben in der Gruppe, durch das Lernen der hebräischen Sprache und das Studium der jüdischen Religion, Kultur und Geschichte vorzubereiten. Bauernhöfe in abgeschiedener Lage waren dazu gut geeignet – wie zum Beispiel der Brüderhof im Zwickmoor.
Auf dem Brüderhof stand ein großes Wirtschaftsgebäude, das 1928 vom Rauhen Haus errichtet worden war. Schlafräume im Erdgeschoss für die Chaluzoth (Pionierinnen) und im Obergeschoss für die Chaluzim (Pioniere), Viehställe, Scheunen, Lagerschuppen und kleinere Baracken: 40 Ausbildungsplätze wurden hier insgesamt geschaffen.
Pächter Ernst Heinrich Leuschner, Anleiter und Vorgesetzter der Bewohner, der selbst überzeugter Nationalsozialist war, half den jungen Juden aber auch in prekären Situationen beim Überleben. In späteren Berichten der ehemaligen Bewohner wurde das anständige Verhalten des Pächters gewürdigt. Er ließ die jüdischen Jugendliche laut Augenzeugenberichten keine feindselige Haltung spüren.
Sobald sich die jungen Menschen in der Ausbildung (Hachschara) körperlich und geistig bewährt hatten, wurden sie zur Auswanderung vorgeschlagen, und es wurde ein Einreise-Zertifikat nach Palästina für sie beantragt. Das war durchaus ein kompliziertes Verfahren: Die britische Mandatsregierung von Palästina erteilte nur zweimal jährlich eine immer wieder neu festgelegte Anzahl von Zertifikaten in verschiedenen Kategorien. Die jeweilige Anzahl hing von der britischen Beurteilung des jüdisch-arabischen Verhältnisses in Palästina ab.
Im Berliner Palästina-Amt entschied schließlich eine Kommission über die Vergabe der Zertifikate. Bei Genehmigung gingen die Brüderhof-Bewohner gemeinsam auf die Reise: Per Zug nach Triest, von dort mit dem Schiff nach Palästina. Begleitet von Delegierten des Hechaluz.
Nach den Pogromen 1938 wurde der Hof geschlossen
Im Frühjahr des Jahres 1938 gab es Reisezertifikate nur noch für die jüngeren Jahrgänge. Alle jungen Männer und Frauen, die älter als 18 waren, mussten ihre Hachschara in Dänemark fortsetzen, was allerdings nur bis zum Tag der deutschen Besetzung Dänemarks am 9. April 1940 funktionierte. Am 27. und 28. Oktober 1938 fand die erste große Deportation von Juden polnischer Herkunft statt, von der auch der Brüderhof betroffen war. Nach den Novemberpogromen 1938 musste der Brüderhof vom Hechaluz aufgegeben werden. Am 1. Mai 1939 verpachtete das Rauhe Haus den Brüderhof dann an die evangelische Stiftung Alsterdorfer Anstalten.
Vor 18 Jahren traf die Norderstedter Journalistin und Abendblatt-Mitarbeiterin Heike Linde-Lembke, Gründerin und langjährige Vorsitzende des Vereins Chaverim, in Jerusalem eine Frau, die im Jahr 1939 als eine der Letzten den Brüderhof verlies. Bertchen Kern, die sich später Batia Amorai nannte, war im Juni 1938 von ihren Eltern über Hechaluz auf den Harksheider Hof geschickt worden. Ihre Eltern und auch ihre Schwester sah sie nie wieder, aber über ihre Zeit auf dem Brüderhof berichtete sie ohne Groll. „Die Jungen arbeiteten auf dem Land, im Feld und im Moor, wir Mädchen im Haushalt“, berichtete die damals 78-Jährige im Jahr 2000. „Wir waren sechs 15- bis 16-Jährige, haben drei Stunden am Tag gearbeitet, badeten in der Alster, machten Ausflüge.“
Auch Sieghard Bußenius hatte in den 80er-Jahren persönlichen und brieflichen Kontakt zu ehemaligen Pionierinnen und Pionieren vom Harksheider Brüderhof. Heute leben nach seiner Kenntnis keine Zeitzeugen mehr.