Norderstedt . Carmen Weidenbecher wurde 2017 auf der Ulzburger Straße von einem Lastwagen überrollt. Ein Alptraum für die Familie.
Die Autos waschen und polieren, das hatten sich Bernd Weidenbecher und sein Sohn Tim vorgenommen an jenem Mittwoch, es war der 2. August 2017. Carmen Weidenbecher, Tims Mutter, wollte eine Freundin in Friedrichsgabe besuchen. Sie setzte sich um 9.30 Uhr auf ihr Elektrofahrrad und verabschiedete sich von ihren Jungs. „Bin so um Eins wieder da!“ Bernd und Tim Weidenbecher fuhren zur Waschanlage und polierten später die Autos in der Auffahrt des Einfamilienhauses in Norderstedt-Mitte. Carmen Weidenbecher war um 13 Uhr noch nicht zurück. Ihr Mann Bernd machte sich aber keinen Kopf. Wird sich bei ihrer Freundin festgequatscht haben, dachte er. Als sie um 16 Uhr immer noch nicht da war, schickte er ihr eine WhatsApp, aus Jux: „Lebst du noch?“ Da war Carmen Weidenbecher bereits mehr als drei Stunden tot.
Natürlich hat Bernd Weidenbecher die Nachricht noch auf seinem Handy gespeichert. Das WhatsApp-Profil seiner Frau Carmen hat er auch ein Jahr nach ihrem Tod nicht gelöscht. Ein digitales Mahnmal. Er muss sich beherrschen, wenn er die Nachricht öffnet und seinem Gesprächspartner zeigt. „Doch ich will meine Geschichte erzählen. Damit die Leute wissen, dass einem in diesem Land jemand einen lieben Menschen nehmen kann, und dann kommt er einfach so davon, mit einer Geldstrafe, und alle, die damit zu tun haben, verdienen ihr Geld und reden und reden – und ich fühle mich allein gelassen. Mir bleibt nur die Trauer und der Kampf mit der Versicherung der Gegenseite.“ Auf dem Küchentisch liegt die Verkehrsunfallanzeige der Polizei. „Keine Angst – die Bilder sind da nicht mehr drin.“
Am 2. August 2017 kamen sie am frühen Abend: Zwei Polizeibeamte und zwei vom THW. „Die Dame vom THW kannte ich und sagte: Mensch Susan, was guckst du denn so schräg? Sie sagte, lass uns reingehen und setz dich.“ Was die Polizisten und die THW-Leute dann erzählten, ist selbst ihnen zu viel. „Einer der Polizisten, der Jüngere, musste das Haus verlassen und sich beinahe übergeben. Er war bei der Unfallaufnahme dabei gewesen“, sagt Weidenbecher. Die Bilder im Kopf.
Carmen Weidenbecher wollte tatsächlich gegen Eins wieder bei ihren Jungs sein. Sie fuhr mit ihrem Elektrofahrrad gegen 12.30 Uhr auf der Ulzburger Straße in Richtung Süden. Auf Höhe der Einmündung des Steindamms hielt sie vor einer Ampel. Auf der Straße vor ihr zwei Autos und ein Sattelzug der Marke MAN, ein schwerer Baustellen-Lastwagen. In einem der Wagen saß eine Bekannte, die Carmen Weidenbecher erkannte – und Sekunden später zur Augenzeugin ihres Todes wurde.
Denn der Lastwagenfahrer, ein 55-jähriger Mann, sah Carmen Weidenbecher nicht. Die Staatsanwaltschaft wird später feststellen, dass er sie hätte sehen können, ja müssen. Juristisch ausgedrückt: Er habe nicht die „im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt“ beachtet und aufgrund seiner unachtsamen Fahrweise den Tod der 54-jährigen Radfahrerin verschuldet.
Als die Ampel auf der Ulzburger Straße um 12.42 Uhr auf Grün sprang, fuhren Carmen Weidenbecher, der Lastwagen und die anderen Autos gemeinsam an. Weidenbecher radelte auf dem kombinierten Geh- und Radweg, als der 55-jährige Lastwagenfahrer für sie völlig unvermittelt nach rechts abbog – er wollte auf die Baustelle des ehemaligen Pflanzenmarktes Lüdemann. Carmen Weidenbecher geriet unter mehrere Reifen des Sattelzuges. Der Fahrer merkte nichts vom Zusammenstoß und brachte den MAN erst auf der Baustelle zum Stehen. Dann wurde ihm das Ausmaß seines Fahrfehlers bewusst. Im Polizeibericht hieß es später, der Fahrer und mehrere Augenzeugen standen unter Schock und mussten behandelt werden.
Es kostet Bernd Weidenbecher eine Menge Selbstbeherrschung, diesen Tag zu rekapitulieren. „Ich sage das jetzt nur einmal: Von meiner Frau blieb nicht viel mehr übrig als ein Bein.“ Noch am Abend des 2. August 2017 wollte Bernd Weidenbecher zu seiner Frau. Die Polizeibeamten beschworen ihn, das nicht zu tun – und er hielt sich daran. „Dann war alles leer. Meine Tochter kam vorbei, und dann haben wir den ganzen Abend durchgeheult.“
Der Unfall schockte Norderstedt. Wenige Tage nach Carmen Weidenbechers Tod entbrannte eine wütende öffentliche Diskussion über die Sicherheit von Radfahrern in der Stadt. Joachim Brunkhorst, Kreisradbeauftragter und CDU-Stadtvertreter, zeigte sich überzeugt, dass die Radfahrerin noch leben könnte, hätte es auf der Ulzburger Straße von der Fahrbahn abgegrenzte Radfahrstreifen gegeben. „Radfahrer müssen mehr in den Wahrnehmungsbereich der Autofahrer rücken!“ Im Rathaus sah das Baudezernent Thomas Bosse nicht anders. Tatsächlich sind diese Streifen auf der Hauptverkehrsstraße ja längst geplant. Der Umbau kommt nur zu spät für Carmen Weidenbecher.
Aktivisten der Critical-Mass-Bewegung für die Rechte von Fahrradfahrern legten Blumen und Kerzen im Gedenken an die Norderstedterin an der Unfallstelle ab.
Die Weidenbechers lasen davon in der Zeitung. Doch die öffentliche Erregung klang schnell wieder ab. Bei Bernd Weidenbecher weicht die Schockstarre der tiefen Traurigkeit. 26 Jahre Ehe, eine Liebe fürs Leben, die Pläne für den Lebensabend – vorbei. „Im Sommer wäre Carmen 55, Tim 25 und ich 60 geworden. Wir wollten richtig groß feiern im Garten.“ Doch nichts liegt dem Witwer derzeit ferner, als zu feiern.
Weidenbecher fühlt sich alleingelassen. Nicht von seinem Umfeld – Nachbarn, Freunde, alle helfen so gut es geht. Die Weidenbechers sind bekannt in der Stadt. Sohn Tim ist einer der erfolgreichsten Sportler Norderstedts, holte als Jiu-Jitsu-Kämpfer für Kodokan viele internationale Titel.
Allein gelassen fühlt sich Bernd Weidenbecher von den Anwälten, Gerichten und Versicherungen. „Du denkst: Einer überfährt deine Frau, jetzt passiert aber was. Aber es passiert nichts.“ Nach dem Alptraum des Verlustes erlebt Bernd Weidenbecher den Alptraum der Aufarbeitung.
Der Tod kostet. Carmen Weidenbecher wird in einer Urne beerdigt. „Die erste Rechnung, die sofort kam, war von der Stadt für die Einäscherung. Die Beerdigung und andere Kosten rund um den Unfall summierten sich schnell auf 10.000 Euro. Aber von der Versicherung der Gegenseite kam nichts.“ Weidenbecher ist Malermeister, war früher selbstständig und hatte vier Angestellte. „Nach meinem Herzkasper ging das nicht mehr – zu aufregend.“ Heute arbeitet der 60-Jährige in der Autopflege bei den Norderstedter Werkstätten. Mal eben 10.000 Euro Kosten wuppen – das geht für ihn nicht einfach so.
Weidenbecher ist seit dem Tod seiner Frau in psychiatrischer Behandlung, war in Bad Segeberg in einer Reha-Maßnahme mit anderen Menschen, die traumatische Erlebnisse bewältigen müssen. Arbeitsfähig ist er nicht. Und jetzt noch kämpfen mit der Versicherung der Gegenseite um jeden Euro Wiedergutmachung, für die Haushaltshilfe oder Beerdigungskosten?
Weidenbecher sucht Hilfe bei einem bekannten Norderstedter Anwalt. Der soll klären, was mit der Versicherung ist, wann es ein Verfahren gegen den Lastwagenfahrer gibt und wo eigentlich der Schmuck von Carmen Weidenbecher geblieben ist, den sie immer trug – auch beim Unfall.
Doch der Anwalt bleibt untätig, bescheidet seinem Mandanten pauschal, dass es schwer werde, Leistungen für eine Haushaltshilfe und Schmerzensgeld von der Versicherung der Gegenseite zu erwirken. „Irgendwann platzte mir der Kragen, und ich suchte mir einen anderen Anwalt.“
Als der erfahrene Strafrechtler Ulfert Jährig aus Hamburg den Fall Weidenbecher übernimmt, schreibt der zunächst einen geharnischten Brief an seinen Norderstedter Kollegen für dessen wenig empathischen Umgang mit der Familie Weidenbecher und bittet um Herausgabe der Verfahrensakten. Was der Norderstedter Anwalt dann aus Unbedachtheit machte, grenzt an seelische Grausamkeit. Er schickte die Unfallakte nicht etwa dem Anwalt Jährig, sondern Bernd Weidenbecher. „Ich machte den Umschlag auf – und dann waren da diese Bilder. Meine Frau, verteilt auf Fahrzeugteilen.“
Ulfert Jährig nimmt schließlich im Februar 2018 Kontakt zur Staatsanwaltschaft in Kiel auf und erkundigt sich nach dem Sachstand im Fall Carmen Weidenbecher. Und erfährt schließlich am 21. März vom zuständigen Richter am Amtsgericht Norderstedt, Jan Willem Buchert, dass er dem Antrag der Staatsanwaltschaft gefolgt ist und einen Strafbefehl gegen den 55-jährigen Lastwagenfahrer erlassen hat. Es wird also keine Hauptverhandlung vor Gericht geben.
Mit den Augen von Bernd Weidenbecher gesehen ist dieser Strafbefehl nur so etwas wie ein dickes Knöllchen. Der Mann, der ihm seine Frau genommen hat, bekommt einfach eine Geldstrafe, so, als habe er falsch geparkt. Kein Fahrverbot, kein Führerscheinentzug – nichts, was Weidenbecher auch nur im Ansatz das Gefühl gibt, dass der Tod seiner Frau strafrechtlich annähernd ausreichend gesühnt wurde.
Mit den Augen von Richter Jan Willem Buchert und denen der Staatsanwaltschaft sind die für einen Strafbefehl relevanten Kriterien erfüllt. Die Schuldfrage ist klar, fahrlässige Tötung durch Unachtsamkeit beim Abbiegen. Der Angeklagte ist vollumfänglich geständig. Eine Hauptverhandlung wäre nur nötig, wenn der Tatvorwurf nicht einwandfrei geklärt wäre. Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe in Höhe von 100 Tagessätzen à 50 Euro, die als Vorstrafe im polizeilichen Führungszeugnis eingetragen wird, ist für das Gericht für die Tat angemessen – denn strafrechtlich ist der Mann unachtsam im Straßenverkehr gewesen. Auch wenn in diesem Fall der Tatvorwurf und die Folgen in etwa so weit auseinanderklaffen wie der Grand Canyon.
„Strafbefehle sind bei Unfällen dieser Art in Deutschland üblich. Doch zuletzt – auch durch den Raser-Prozess in Berlin – ist das nicht mehr der Fall“, sagt Ulfert Jährig. Die Öffentlichkeit hat Interesse an der Aufarbeitung solcher Fälle in Hauptverhandlungen. Ganz zu schweigen von den Hinterbliebenen. „Besonders in diesem Fall ist der Strafbefehl nicht das richtige Mittel. Die Folgen des Unfalls sind zu dramatisch. Die Bedeutung des Unfalls geht weit über den Einzelfall hinaus“, sagt Jährig. Er zweifelt nicht das Urteil als solches an. Mehr als eine Geldstrafe hätte es auch in einer Gerichtsverhandlung für den Lastwagenfahrer nicht gegeben. „Doch eine Verhandlung hätte Bernd Weidenbecher bei der Bewältigung des Falles geholfen, hätte ihm das Gefühl gegeben, dass die Justiz in ernst nimmt und nicht den Verlust, den er erlitten hat, per Brief erledigt“, sagt Jährig.
So bleibt Bernd Weidenbecher verbittert zurück und kann nicht verstehen, warum jemand seinen Führerschein bis zu fünf Jahre verliert, wenn er eine rote Ampel überfährt, die schon eine Sekunde lang rot war und dabei einen Unfall mit Sachbeschädigung baut. Und jemand, der im Sattelzug unachtsam durch die Gegend gondelt und dabei einen Mensch tötet, einfach weiterfährt.
Im Haus der Weidenbechers türmen sich auch im Wohnzimmer die Akten, die in der Auseinandersetzung mit der Versicherung wichtig sind. Weidenbecher strebt eine Zivilklage an, der Kosten wegen. „Ich habe auch mal einen Brief bekommen, von dem Lastwagenfahrer – aber der war Fake“, sagt Weidenbecher. Gestelzte Entschuldigungsversuche seien es gewesen, handgeschrieben, aber für Weidenbecher erkennbar nicht so formuliert, wie einem Lastwagenfahrer das Maul gewachsen ist. „Hat wahrscheinlich was abgeschrieben, was ihm vom Anwalt gegeben wurde. Wenn er angerufen und einfach nur Entschuldigung gestammelt hätte, wäre mir das was wert gewesen – aber so?“
Die Katze streicht um seine Füße und miaut. „Ja, du vermisst Mami, nicht war?“, sagt Bernd Weidenbecher. An der Pinnwand in der Küche hängt ein roter Zettel mit Kinderschrift: „Für die beste Mami“. Carmen Weidenbecher ist weg und doch für immer präsent.