Nahe. Vigo Segebrecht aus Nahe hat statt einer Kochzeile eine Uhrmacher-Werkbank von 1927 in seinem Esszimmer – nicht in der Werkstatt.

Er dreht am ganz kleinen Rad, an der kleinsten Schraube, der kleinsten Mutter. Der ganze Stolz von Vigo Segebrecht ist seine Uhrmacher-Drehbank von 1927. Deshalb steht sie auch nicht in einer Werkstatt. Und auch nicht im Keller. Das Prachtstück steht in Vigo Segebrechts Esszimmer. Einige seiner Gäste störten sich allerdings daran. Beispielsweise eine seiner Spielpartnerinnen. Denn im Esszimmer dreht Vigo Segebrecht nicht nur am kleinsten Rad. Der 78-Jährige spielt dort auch mit seinen Freundinnen Pochen, ein altes Kartenspiel, aus dem sich das Pokern entwickelte.

„Eine Mitspielerin ist abgesprungen, sie konnte es nicht verknusen, beim Spielen meine Werkbank zu sehen“, sagt Vigo Segebrecht und grinst immer noch verwundert über eine derartige Reaktion. Macht nichts. Mitspielerinnen hat er trotzdem. Sie haben sich daran gewöhnt, dass im Esszimmer statt Kochzeile eine Uhrmacher-Drehbank steht. Denn um kein Spiel der Welt würde Vigo Segebrecht seine Werkbank in den Keller verbannen.

Der gelernte Feinmechaniker arbeitet nicht nur an filigranen Kleinstteilen. Er entwickelt vor allem seine Uhrmacher-Werkbank immer weiter, und wenn der Mann kleinste Maulringschlüssel, Imbusschlüssel, Seitenschneider, Rohr- und Spitzzangen, Kabelstrippen-Abzieher sowie Rosenscheren und verstellbare Schraubenschlüssel (Engländer) zeigt, ist er voll in seinem Element.

„Die Engländer heißen wirklich so, wahrscheinlich hat den Engländer-Schlüssel ein Brite erfunden“, sagt der gebürtige Hamburger, der in Norderstedts Stadtteil Harksheide seine Kinder-, Jugend- und Arbeitszeit verlebte, zur Rente mit seiner Ehefrau Barbara nach Henstedt-Ulzburg und schließlich als Witwer zu seinen Söhnen Olaf und Jens nach Nahe zog. Auch die Söhne sind Handwerker wie er. Olaf Segebrecht ist Malermeister, Jens Segebrecht lernte Werkzeugmacher und ist heute Elektronik-Spezialist.

Vigo Segebrechts Vater indes war Dorfschullehrer in Schwerin. Zu seinem Sohn sagte er stets: „Werde nie Lehrer!“ Der Sohn gehorchte und lernte Feinmechaniker beim Büro-Einrichter Stielow, der damals seinen Sitz am Ochsenzoller Bahnhof hatte. Zuvor floh die Familie beim Einmarsch der Roten Armee aus Schwerin zurück nach Hamburg, wohnte in der ausgebombten Turnhalle einer Schule an der Alster und zog dann nach Harksheide. Der kleine Vigo ging zur Volksschule Harksheide-Nord, dann zur Garstedter Mittelschule an der Niendorfer Straße.

„Ich habe schon als Kind immer irgendetwas zurechtgefummelt und hatte viel Freude daran, kleinste Teile zu einem Ganzen zusammenzubringen“, erinnert sich Vigo Segebrecht. Doch das Leben verläuft nicht gerade, sondern krumm. Bei der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik 1966/1967 musste sich auch Vigo Segebrecht beruflich neu orientieren und wählte die damals noch sichere Seite – Vater Staat. Vigo Segebrecht wurde Hausmeister an der Grundschule Harksheide-Nord, an der Schule, an der er schon als kleiner Buttje Rechnen und Schreiben lernte.

„Dort habe ich alles gemacht, alles repariert, den Kindern Milch und Kakao verkauft, Schule und Schulhof in Ordnung gehalten“, sagt er heute. Ehefrau Barbara, die er im April 1963 heiratete, war immer an seiner Seite: „Sie war die Seele der Schule, hat die Kinder getröstet, wenn sie hinfielen und Pflaster auf die Wunden geklebt.“

Bei seiner Werkbank-Präsentation erinnert Vigo Segebrecht gern an seine Ehefrau, die ihn immer unterstützte und nie eifersüchtig auf seine Uhrmacher-Werkbank war. Schließlich verbrachte er viel Zeit mit seiner großen Leidenschaft, der kleinen Mechanik.

„Die Werkbank ist zeitlebens mein großes Hobby, ich arbeite aber nur für mich“, sagt Segebrecht. Das Herzstück der Werkbank entdeckte er in seiner Lehrfirma Stielow. „Die Uhrmacher-Werkbank stand dort rum. Mit ihr wurden die Federn für Wand- und Standuhren gewickelt, doch das gab es immer seltener“, sagt er. Die Uhrmacher-Werkbank stand in einer Ecke, er schlich um sie herum und fragte eines Tages, ob er sie haben dürfte. Die Wirtschaft boomte, die Technik florierte, die alte Uhrmacher-Werkbank war ein Relikt von 1927, und so durfte Vigo Segebrecht das gute Stück mit nach Hause nehmen.

„Ich kann damit heute Sachen arbeiten, die sonst niemand kann“, sagt der Feinmechanik-Tüftler, der am liebsten das dreht, was ihm gerade einfällt, neue Mechaniken entwickelt, ausprobiert. Auch den Antrieb mit der guten alten Black-&-Decker-Bohrmaschine für seine Werkbank hat er selbst ausgetüftelt. Dass die Maschine einen Höllenlärm im Esszimmer macht, stört ihn gar nicht, im Gegenteil, dann lebt Vigo Segebrecht richtig auf. Selbst gebaut ist auch der Trafo für das Lötgeschirr.

Eine Nähmaschine dient als Unterbau der Drehbank

Für seine Werkbank wird Vigo Segebrecht zum Erfinder. Einer Auto-Antenne, die er auf der Straße fand, baute er einen Griff an und funktionierte sie so zum Zeigestock um. Denn den braucht er, weil eine Führung durch seine Esszimmer-Werkstatt auch immer eine Führung durch die Werke seiner Ehefrau ist. Sie hat große Puzzles mit Motiven aus aller Welt zusammengesetzt, und darüber freut er sich immer wieder: „Ich muss nicht verreisen, ich guck mir die Puzzles meiner Frau an.“ Auch eine Liebeserklärung.

Hingucker sind für ihn auch seine Schraubstöcke, die mal beweglich sind, mal fest stehend, seine selbst kreierten und gebauten Lampen aus Fundstücken, seine Zubehör-Behälter aus Joghurt- und anderen Bechern und Boxen: „Das werfen die Leute weg, ich mach was draus“. Ein Teil seiner Drehbank, die immer noch wächst, hat als Unterbau eine alte Nähmaschine samt Schubladen. Eine elektrische Tischbohrer-Maschine hat er so gebaut, dass er damit auch waage- statt nur senkrecht bohren kann, und das alles auf engstem Raum, in dem jeder Millimeter exakt durchdacht ist.

Was er auch produziert, ob Teile, um seine Drehbank zu vervollständigen oder Mini-Ringlöcher für Duschvorhänge, immer arbeitet der alte Antrieb der Uhrmacher-Werkbank von 1927 mit. Ein Sortiment Gummiringe gehört dazu. Vigo Segebrecht beschränkt sich aber nicht nur auf Metallarbeiten. Er drechselt und fräst auch Dinge aus Holz und Kunststoff, beispielsweise Modelle eines Fernsehturms, und das bis auf „einen hundertstel Millimeter genau“. Aus Chirurgenstahl stellt er kleinste Messer für seine Werkbank her. „Ich liebe diese Präzisionsarbeit an der Drehbank, ich liebe es, darauf zu achten, dass sich der Druck nicht verändert, dass ich es schaffe, mit meiner Technik die Späne beim Schneiden und Schleifen in die richtige Richtung fliegen zu lassen“, sagt der Tüftler und spannt eines seiner kleinen, fein geschliffenen Messer in die alte Uhrmacher-Drehbank ein.