Kreis Segeberg. Der Journalist Helge Buttkereit hat in einem Buch die Vergangenheit des Kreis Segeberg im Nationalsozialismus aufgearbeitet.

Es sind die Orte, die an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte gemahnen, an die sich aber lange niemand mehr erinnern mochte. Diesen Gedenkorten der Opfer der NS-Diktatur hat der Historiker und Journalist Helge Buttkereit (41) jetzt für den Kreis Segeberg ein Buch gewidmet, das er „Verdrängen, Vergessen, Erinnern“ betitelt hat.

In dreijähriger Recherchearbeit hat Buttkereit hier versucht, alle Orte zu beschreiben, wo es hier Opfer dieser Schreckensherrschaft gegeben hat. Dieses Werk umfasst auf 150 Seiten nicht nur die drei KZ-Gedenkstätten in Kaltenkirchen (Nützen-Springhirsch), Norderstedt (Wittmoor) und Rickling (Kuhlen). Buttkereit hat auch weitere Opferplätze des Nazi-Terrors in Bad Segeberg, Bad Bramstedt, Henstedt-Ulzburg, Wahlstedt, Kisdorf, Glasau, Boostedt und Sülfeld entdeckt, geforscht und dabei versucht, „die Geschichte hinter den Gedenkorten und die Geschichte der Gedenkorte selbst“ zu erzählen, wie er seine Buchidee beschreibt. „Mit diesen Orten wirkt die Geschichte des Nationalsozialismus im Kreis Segeberg in die Gegenwart hinein.“ Landkarten und Wegbeschreibungen sollen es dem Leser erleichtern, diese Gedenkorte auch zu finden, falls er sie selber aufsuchen möchte.

Buttkereit widmet sein Buch auch Historiker Gerhard Hoch

Als Grundlage diente dem Autor eine Artikelserie, die er zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs für die Norderstedt-Ausgabe des Hamburger Abendblatts recherchiert und geschrieben hatte. Sie seien für ihn der Anlass für die Buchveröffentlichung gewesen, erklärte der Autor jetzt vor Journalisten, die er passend zum Thema in die KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen nach Nützen-Springhirsch eingeladen hatte. Er widmet sein Buch auch dem 2015 verstorbenen Historiker Gerhard Hoch aus Alveslohe, der jahrzehntelang über die KZ-Gefangenen in Kaltenkirchen und das sogenannte Sterbelager für sowjetrussische Kriegsgefangene in Heidkaten geforscht und die KZ-Gedenkstätte im Jahr 2000 begründet hat.

Helge Buttkereit hat ein Buch über die Gedenkorte im Kreis Segeberg geschrieben. Hier mit Uwe Czerwonka (l.) vom Trägerverein der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen und Pastor Bernd Hofmann (r.) von der Kirchengemeinde Bad Bramstedt
Helge Buttkereit hat ein Buch über die Gedenkorte im Kreis Segeberg geschrieben. Hier mit Uwe Czerwonka (l.) vom Trägerverein der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen und Pastor Bernd Hofmann (r.) von der Kirchengemeinde Bad Bramstedt © HA | Burkhard Fuchs

Spuren der NS-Vergangenheit finde man, wenn auch heute immer schwerer, fast überall im Kreis Segeberg, sagt Buttkereit. „Zwangsarbeit gab es an jedem Ort im Kreis.“ Vor allem Kriegsgefangene aus Polen und Russland mussten während des Krieges die Arbeiter auf den Bauernhöfen ersetzen, die als Soldaten an die Front geschickt wurden. Dabei lag deren Schicksal in den Händen ihrer deutschen „Arbeitgeber“, die sie vielerorts relativ gut behandelten und mit Lohn, Kost und Logis versorgten, sodass es ihnen möglicherweise hier noch besser erging als im besetzten Heimatland, zitiert Buttkereit Augenzeugen.

Vielfach aber mussten die Zwangsarbeiter auch unter unmenschlichen und unhygienischen Bedingungen leben und wurden mit dem Knüppel solange geprügelt, bis sie ihr Arbeitssoll erfüllt hatten, wie andere Augenzeugen berichten. Im Wittmoor wurden sie zum Torfstechen gezwungen.

Mindestens 13 polnische Kinder waren völlig unterernährt

Ein besonders perfides Beispiel der NS-Verbrechen, das bislang noch nicht in der Literatur erwähnt sei, hat Buttkereit für den kleinen Ort Wiemersdorf bei Bad Bramstedt herausgearbeitet. Dort war eine „Ausländerkinder-Pflegestätte“ eingerichtet, in die gleich nach ihrer Geburt die Kinder von Zwangsarbeiterinnen zusammengetragen worden waren. 15 solcher Einrichtungen gab es in den 40er-Jahren in Schleswig-Holstein. Buttkereit fand heraus, dass mindestens 13 polnische Kinder im Säuglingsalter in Wiemersdorf ums Leben kamen, weil sie dort völlig unterernährt waren. Einen halben Liter Milch und ein Stück Würfelzucker seien die tägliche, völlig unzureichende Nahrungsration für diese Kleinstkinder in ihrer fremden „Obhut“ gewesen, sodass sie zwangsläufig an dieser „Ernährungsstörung“ starben, wie die offizielle Todesursache im euphemistischen NS-Jargon in den Akten genannt wurde.

Pastor Bernd Hofmann von der Kirchengemeinde Bad Bramstedt, zu der die Gemeinde Wiemersdorf gehört, hatte von diesem Kinderheim der Zwangsarbeiterinnen noch nie gehört, wie er berichtet. Auch die ältesten Bewohner im Dorf konnten sich nicht daran erinnern. Schließlich machte er eine heute 80-Jährige aus Wiemersdorf ausfindig, die heute in Frankreich lebt. Sie erinnerte sich, wie eines Nachts die russische Erzieherin des Kinderheims an die Tür ihres Elternhauses klopfte und um Milch und Medikamente bettelte.

An diese „vergessenen Kinder von Wiemersdorf“ , auf deren Gräber heute noch „feindliche Ausländer“ steht, soll jetzt besonders erinnert werden, kündigte Pastor Hofmann an, und bis zum Sommer ein Ort des Gedenkens dafür geschaffen werden. „In der Gemeinde Wiemersdorf ist diese Geschichte mit einem Schock aufgenommen worden.“

Dabei kam es dort noch unmittelbar zu einem Racheakt. Aufgebrachte Zwangsarbeiter, die noch nach Kriegsende als „displaced persons“ in der deutschen Fremde eine Zeitlang bleiben mussten, erschlugen am 12. Juli 1945 den damaligen Bürgermeister Hans-Willi Schümann von Wiemersdorf mit dessen eigener Axt, weil er die „Polaken“-Kinder so miserabel und unmenschlich behandelte.

Das Buch „Verdrängen, Vergessen, Erinnern. Ein Wegweiser zu den Gedenkorten an die Opfer der NS-Zeit im Kreis Segeberg“ (ISBN-Nr.: 978-3-944570-62-4) ist für zwölf Euro in allen Buchhandlungen zu erwerben. Es ist in einer Auflage von zunächst 800 Exemplaren erschienen. Der Autor Helge Buttkereit ruft dazu auf, ihm auf seiner Homepage
www.buttgereit.info/gedenken Anmerkungen und weitere Informationen zukommen zu lassen. Gerne sei er auch bereit, sein Buch Schülern im Geschichtsunterricht vorzustellen und mit ihnen zu diskutieren.