Norderstedt. Die einstige Regimekritikerin Evelyn Zupke schildert Norderstedter Berufsschülern eindrucksvoll den Untergang der DDR
„Sonderzug nach Pankow“, „Tal der Ahnungslosen“ oder „Zettelfalten“. Damit können die meisten Schüler von Günter Dieckmann vor den zwei Stunden mit Evelyn Zupke nichts anfangen. Die 55-Jährige stammt von der Insel Rügen, war in der DDR-Opposition aktiv und erzählt heute gern über ihre eigene Geschichte und die Erfahrungen aus den letzten Jahren der DDR. Dieckmann lädt regelmäßig Zeitzeugen in die Schule ein. Ob zum Thema Nationalsozialismus, ob für die Entwicklungshilfe oder eben verschiedene Aspekte der Geschichte der DDR. „Ich setze Zeitzeugen für alles ein, was der Lehrplan hergibt“, sagt Dieckmann. Bücher seien wichtig, der direkte Kontakt mit Zeitzeugen aber bedeute einen anderen Zugang.
So dürften die meisten Schüler des 12. Jahrgangs nun auch etwas mit den zu Beginn genannten Begriffen beziehungsweise dem Lied von Udo Lindenberg anfangen können. Alle drei haben etwas mit Evelyn Zupke zu tun. Sie war bereits als Schülerin aufmüpfig und kritisierte teilweise offen, teilweise verdeckt die Staatsführung der DDR. „Ich habe gern provoziert. Ich habe begriffen, dass man uns total verarscht“, sagt sie. Sie konnte in der Folge nicht studieren. Aber sie wollte es auch nicht, wie sie heute sagt: „Ich wollte die größtmögliche Freiheit, das Studium war mir zu nah am System.“ So arbeitete sie nach dem Abitur als Kellnerin und kam über Kontakte an Udo Lindenbergs Lied „Sonderzug nach Pankow“ aus dem Jahr 1983. „Das war in der DDR absolut verboten“, sagt sie. Gleichwohl oder eher gerade deshalb spielte sie es laut über die Lautsprecher des Cafés, in dem sie arbeitete, beschallte die Strandpromenade und musste sich danach bei ihren Vorgesetzten rechtfertigen.
Schüler wissen nicht, was das „Tal der Ahnungslosen“ ist
Rügen gehörte damals zum „Tal der Ahnungslosen“. „Könnt ihr etwas mit dem Begriff anfangen?“, fragt Zupke die Schüler, die richtige Antwort bleibt aber aus. Zupke erläutert, dass rund um Dresden und eben in Teilen des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns kein Westfernsehen zu sehen und kein Westradio zu hören war. Für Schüler anno 2017 unvorstellbar. Sie hören weiter gespannt zu. Wenn Evelyn Zupke erzählt, dann kommt keine Müdigkeit auf. Politisch seien ihre Aktionen zunächst nicht motiviert gewesen, sagt sie. „Das hat die Gegenseite daraus gemacht.“ Richtig politisch wurde Zupke erst später. Über die Diakonie Anklam, wo sie nach 1984 mit Behinderten arbeitete, kam sie an einen Ausbildungsplatz für Heilerziehungspflege in Ost-Berlin. Dort schloss sie sich der Opposition an, die Anfang 1989 überlegte, wie sie der Staatsführung den Wahlbetrug bei den anstehenden Kommunalwahlen nachweisen konnte.
„Könnt ihr etwas mit dem Begriff Zettelfalten anfangen?“, fragt sie die Schüler. Diesmal kann einer erläutern, was damit gemeint ist: Für die Abstimmung in der DDR musste nur der Wahlzettel gefaltet und in die Urne gesteckt werden. „Das war ein Ritual zur Bestätigung der Politik der DDR-Führung“, sagt Zupke. Schon 1984 war sie nicht zur Kommunalwahl gegangen, am 7. Mai 1989 ging es nun um mehr. Die Gruppe um Evelyn Zupke, der Weißenseer Friedenskreis, schickte mehr als 200 Mitstreiter in die Wahllokale des Bezirks, um die Auszählung zu protokollieren.
„Hatten Sie denn keine Angst vor der Stasi?“, fragt eine Schülerin. „Wir wussten, dass die Stasi dabei ist, und die wusste, dass wir das wussten“, antwortet Zupke. Es hätte komplett schiefgehen können, gibt sie unumwunden zu, aber am Ende rechnete ausgerechnet ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR die gesammelten Zahlen zusammen. „Jetzt kommt mein Stasi-Spitzel-Spiel“, sagt Zupke und gibt ein Foto von sich mit fünf anderen vermeintlichen Oppositionellen aus dem Jahr 1989 herum. „Wer ist hier der Spitzel?“, fragt sie. Alternativ gekleidete Personen stehen neben einem großen blonden Mann mit weißem T-Shirt und Trainingsjacke. Fast alle Schüler tippen auf ihn. „Richtig“, sagt Zupke, „der sieht so aus, und der war es.“
Die Opposition konnte die Wahlfälschung nachweisen, was gleich am nächsten Tag im Radio des Westens berichtet wurde. Ein großer Triumph für Zupke. Während die DDR-Führung wieder von knapp 99 Prozent Zustimmung berichtete, hatten Wahlbeobachter nicht nur in Ost-Berlin Gegenstimmen oder ungültige Wahlzettel von 3 bis 30 Prozent je nach Wahllokal nachgewiesen. In der Folge riefen Zupke und ihre Mitstreiter für den 7. jedes Monats zu Demonstrationen auf, die fast immer von der Staatssicherheit unterbunden wurden. Sie wurde überwacht und immer wieder von der Polizei abgeholt.
„Haben Sie heute noch Verfolgungswahn?“, fragt ein Schüler. „Nein, das hatte ich nie. Ich war ja erst sehr spät dabei und musste nicht so viel über mich ergehen lassen“, sagt Zupke. Nach dem Ende der DDR war sie für die Stasi-Unterlagenbehörde und die zentrale Wahlkommission für die freien Wahlen tätig. Heute arbeitet die einstige Oppositionelle mit psychisch Kranken in Hamburg, wohnt in Winsen an der Luhe und erzählt häufig von ihrer Vergangenheit. „Ich möchte meine Erfahrung weitergeben und vermitteln, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist.“