Vor 75 Jahren wurden 175 Frauen aus der den „Holsteinischen Heilstätten“ in Rickling nach Thüringen verlegt. Fast alle starben.

Erna Hoffmanns Geschichte steht für viele andere. Vor 75 Jahren, Ende November 1941, wurde sie aus dem Lindenhof der „Holsteinischen Heilstätten für Nerven- und Alkoholkranke“ des Landesvereins für Innere Mission in Rickling in eine Klinik in Thüringen verlegt. Elf Monate später war sie tot. Von den insgesamt 175 Frauen, die den Lindenhof verlassen mussten, überlebten nur 19 den Krieg. Neun weitere starben bis 1947. Die Hamburgerin Erna Hoffmann gehört zu denen, die in Pfafferode verhungerten, weil das Pflegepersonal und die Ärzte sie nicht versorgten. Andere wurden in der „Landesheil- und Pflegeanstalt Pfafferode“ bei Mühlhausen, die in dieser Zeit ihrem Namen Hohn sprach, aktiv durch Medikamentengabe oder Fieberversuche umgebracht.

Die Patientinnen aus Rickling galten in den Augen der nationalsozialistischen Ideologie als unwertes Leben, waren psychisch krank, meist schizophren und konnten in den meisten Fällen nicht arbeiten. Gerade in den Kriegszeiten, in denen großer Mangel an Nahrungsmitteln bestand, waren diese Menschen mit die Ersten, bei denen gespart wurde. Sie fielen der sogenannten Euthanasie zum Opfer. Der Begriff ist dabei irreführend, da er ursprünglich einen „guten Tod“ aus Sicht des Sterbenden und seiner Angehörigen bezeichnen sollte. Die „Euthanasie“ der Nationalsozialisten war hingehen ein Massenmord an Behinderten und Kranken.

Man hielt es nicht für nötig, die Kranken weiter zu versorgen

Als Erna Hoffmann starb, war sie 50 Jahre alt. Sie war 1892 unehelich geboren, die Mutter von der Familie verstoßen und sie selbst im Alter von sechs Jahren von einem Hamburger Bürger adoptiert worden. Nach Schule und Lehre arbeitete sie als Schneiderin, heiratete im Jahr 1928 und bekam in rascher Folge fünf Kinder. Bereits nach fünf Jahren wurde die Ehe wieder geschieden. Im Jahr 1936 erlitt sie einen Schlaganfall, die Folge waren unter anderem geistige Behinderungen. Hoffmann kam in die Heilstätte Friedrichsberg in Hamburg-Eilbek.

Die moderne „Irrenanstalt“ Fried­richsberg war den Nationalsozialisten für Behinderte und psychisch Kranke rasch zu schade. „Man hielt es nicht mehr für vorrangig, dem Kranken die bestmögliche Versorgung zu verschaffen, sondern man urteilte nach dem vermeintlichen Wert der Menschen“, fasst es der Historiker Harald Jenner zusammen. Er hat unter anderem zu der Geschichte der Ricklinger und der Alsterdorfer Anstalten geforscht und publiziert. „Für die ,wertlosen‘ Behinderten genügte nur die einfachste Versorgung – zunächst noch“, so die Einschätzung Jenners.

Das Denkmal

Ab 1939 fuhren graue Busse der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat) durch ganz Deutschland. Sie brachten psychisch Kranke und Behinderte zunächst zu extra eingerichteten Vernichtungsanstalten.

Ab 1941 wurden die Busse für die Verlegung von Patienten von Anstalt zu Anstalt eingesetzt, in vielen Fällen ging es ebenfalls darum, die als lebensunwert angesehenen Menschen möglichst fern der Heimat zu ermorden.

Das Denkmal der grauen Busse aus Ravensburg-Weißenau soll der Erinnerung an die Opfer der sogenannten Euthanasie dienen. Es besteht aus zwei Betonbussen, die in Größe und Form den historischen grauen Bussen nachgebildet sind.

Dem Denkmal ist das Zitat „Wohin bringt Ihr uns?“ eingeschrieben. Es ist von einem Mann überliefert worden, der mit den Gekrat-Bussen deportiert wurde.

Einer der beiden begehbaren Betonbusse ist seit 2006 fest in Ravensburg-Weißenau installiert, ein zweiter ist mobil und hat seit 2007 bereits an vielen Standorten in Deutschland und einmal in Polen, die mit der „Euthanasie“ in Verbindung stehen, an die Geschichte der Kranken- und Behindertenmode erinnert. Derzeit steht er in Winnenden.

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Erna Hoffmann wurde zunächst mit vielen anderen Patienten in die „Irrenanstalt Langenhorn“ am Ochsenzoll verlegt, die komplett überfüllt war. Von dort ging es für viele – auch für Erna Hoffmann – weiter nach Rickling in den Lindenhof. Denn auch in Langenhorn sollten fortan „nützlichere“ Kranke versorgt werden. Als der Krieg begann, verschärfte sich die Lage in Rickling. Im August und September 1939 kamen mehr als 250 Menschen in großen Transporten in den Norden des Kreises Segeberg, wo die Häuser schon mit mehr als 800 Patienten belegt waren. Zwei Jahre später sollten es fast 1000 Bewohner sein, eigentlich war nur Platz für etwa 500. Die Todesrate stieg bis 1941 auf zehn Prozent an und in den kommenden Jahren noch weiter, was vor allem mit der immer schlechter werdenden Pflege und Versorgung mit Nahrungsmitteln zu tun hatte. Planmäßige Tötungen im Rahmen des „Euthanasie“-Programms hat es in Rickling nicht gegeben. „Es gibt keinen Hinweis, dass jemand in Rickling eine Spritze gegeben hat“, sagt Harald Jenner. Auch zu Abtransporten durch graue GeKrat-Busse mit den abgedunkelten Scheiben (s. Info-Kasten) in Tötungsanstalten im Rahmen der zentral geplanten Aktion T4 von 1939 bis 1941 kam es aus Rickling nicht. Im Rahmen dieser Aktion wurden mehr als 70.000 Menschen umgebracht.

Während des Transports wurden 67 Spritzen gegeben

Ende 1941 sollte der Lindenhof zu einem Ausweichkrankenhaus für die Stadt Hamburg werden. Harald Jenner: „Wieder schuf man Platz und verlegte Patienten, weil ,wertvollere und gesündere‘, das heißt nur körperlich Kranke und heilungsfähige Menschen, das Recht hatten, psychisch Kranke und Behinderte zu verdrängen.“ Am 25. November 1941 wurden zunächst 147 erwachsene Frauen mit der Bahn und drei Tage später noch einmal 28 mit einem GeKrat-Bus nach Pfafferode bei Mühlhausen verlegt. Zudem wurden 25 Patientinnen im Kinder- und Jugendalter über Pfafferode nach Bethel bei Bielefeld gebracht. Die dortige Einrichtung lehnte die NS-„Euthanasie“ ab und so überlebten in Bethel trotz schlechter Versorgungslage die meisten aus Rickling verlegten Kinder und Jugendliche die Kriegszeit.

Für die Frauen, die teilweise intensiver Pflege bedurften, muss die Verlegung eine Tortur gewesen sein. Das zeigt schon die Zahl von 67 Spritzen, die während der Fahrt gegeben worden sein sollen. Die Patientinnen kamen jeweils am darauffolgenden Tag an ihrem Zielort an, Erna Hoffmann war eine von ihnen. Zur Identifizierung war ihr wie ihren Leidensgenossinnen ein „Leukoplaststreifen mit Namen zwischen die Schulterblätter“ geklebt worden, wie es in den Quellen heißt.

In Pfafferode angekommen, wurden die Patientinnen nicht mehr medizinisch und pflegerisch versorgt, wie die Patientenakten zeigen. Der Historiker und Krankenpfleger Eckhard Heesch, dessen Arbeiten eine wichtige Grundlage für diesen Artikel darstellen, hat die Akten akribisch ausgewertet. Erst kürzlich legte er eine statistische Studie zur Sterblichkeit der verlegten Ricklinger Patientinnen vor, mit der die nur indirekt belegten Morde noch einmal bewiesen werden konnten. Von den nach Pfafferode verlegten Patientinnen starb demnach ein Drittel an Marasmus, wie es im Fachjargon heißt. Übersetzt bedeutet es, dass sie verhungerten. Ein Brief des Anstaltsleiters Theodor Steinmeyer aus dem Jahr 1944, dem Jahr mit der höchsten Todesrate in Pfafferode, wirft ein Schlaglicht auf diese Praxis und die menschenverachtende Ideologie: „Es ist kaum noch die genügende Ernährung der produktiv Kranken sicherzustellen. Die Mortalität der anderen ist ohnehin phantastisch.“

Bereits knapp drei Jahre vorher bei der Ankunft der Ricklinger, Steinmeyer war noch nicht im Amt, war die Todesrate hoch. Eine der verlegten Patientinnen starb noch am Tag der Ankunft, sechs weitere im Dezember 1941. Die anderen überlebten nach Gesundheitszustand jeweils etwas länger. Erna Hoffmann verhungerte am 27. Oktober 1942. Theodor Steinmeyer und seine Vertrauten – nicht alle Mitarbeiter hatten offenbar Zugang zu den Stationen, in denen die Todgeweihten lagen – töteten auch aktiv. Der Arzt, der bereits seit 1929 NSDAP-Mitglied war, verabreichte den von ihm vorher als „lebensunwert“ selektierten Patienten Medikamente in einer Dosis, die sie umbringen musste. Bei Kriegsende zerstörte Steinmeyer einen Großteil der Akten des Krankenhauses, wurde am 18. Mai 1945 verhaftet und brachte sich acht Tage später offenbar mit dem Medikament um, das er seinen Opfern verabreicht hatte: mit dem Schlafmittel Veronal.

Die größten Überlebenschancen in der NS-Zeit in Pfafferode hatten Patientinnen wie Frieda T., deren Schizophrenie laut der Krankenakte weitgehend symptomfrei war. Sie konnte arbeiten und beschwerte sich im Jahr 1944 über die Behandlung durch die Mitarbeiter der Anstalt bei der Polizei. In der Vernehmungsakte heißt es: „In Pfafferode habe ich die Kranken mit waschen und pflegen müssen und verrichtete nebenbei auch noch die Küchenarbeiten.“ Obwohl sie die Arbeit gewissenhaft ausführe, werde sie schikaniert und misshandelt. „Mir ist die Umgebung und die ganze Behandlung zuwider.“ Die Polizei verfolgte die Anzeige nicht weiter, vielmehr wurde sie in die Anstalt zurückgebracht. Frieda T. überlebte den Krieg und wurde im November 1945 entlassen. Von den wenigen anderen Überlebenden sind die meisten nach Hamburg-Langenhorn zurückverlegt worden.

Die „Euthanasie“ wurde erst Mitte der 1980er-Jahre umfassend erforscht, auch wenn es bereits kurz nach dem Krieg erste Arbeiten dazu gab. Auch in Rickling begann die Aufarbeitung erst in den 1980er-Jahren. Der Diakon Peter Sutter, der sich mit als Erster mit der Verstrickung des Landesvereins für Innere Mission in die NS-Verbrechen beschäftigt hat, machte 1986 in seinem Buch „Der sinkende Petrus“ auf die Verlegungen und die Morde aufmerksam. Ende der 80er-Jahre begann die intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung, berichtet Harald Jenner. Er hält die Erinnerung an die Verbrechen auch heute für wichtig – gerade wenn es um die Frage von vermeintlich weniger wertvollem Leben geht.

In Ohlsdorf wird der Toten im „Garten der Frauen“ gedacht

Erst kürzlich habe eine alte Dame für ihn das Thema wieder in die Gegenwart geholt, erzählt er im Gespräch mit dem Abendblatt. Bei der Vorstellung der jüngst erschienenen erweiterten dritten Auflage des Buches über die Alsterdorfer Anstalten in der NS-Zeit, an dem er mitgearbeitet hat, sei eine alte Dame aufgestanden und habe erzählt, dass ihre Zwillingsschwester aus Alsterdorf abtransportiert und dann getötet worden sei. „Die Leute, die direkt davon betroffen sind, leben zum Teil noch“, sagt Jenner. So wie der Sohn von Erna Hoffmann, der dafür gesorgt hat, dass wir heute ein Bild von ihr veröffentlichen können. Denn aus seinem Besitz stammt das Foto, das von den Initiatoren des „Gartens der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof verwendet wird. Ein Stein mit Glassplittern und Gitterstäben erinnert dort an Hoffmann und ihre Leidensgenossinnen.

Im Foyer der Kirche werden die Namen der Frauen genannt

In Rickling hängt seit dem Jahr 2000 eine Tafel im Eingangsbereich der Kirche, auf der alle Namen der nach Pfafferode verlegten Patientinnen verzeichnet sind. Direkt daneben erklärt seit 2008 eine weitere Tafel das Geschehen vor 75 Jahren. Zudem liegt dort ein Gedenkbuch, das ebenfalls die Namen verzeichnet.

Für die gut 6000 Hamburger Opfer der „Euthanasie“, auch die meisten Ricklinger Opfer gehören dazu, solle es laut Senatsbeschluss in Kürze ein Gedenkbuch geben, berichtet Harald Jenner. In diesem Buch sollen alle bekannten Namen der Opfer verzeichnet sein.