Kaltenkirchen. Vera Weberová kam als Kind nach Theresienstadt. Jetzt war die 83-jährige Zeitzeugin in der Waldorfschule Kaltenkirchen zu Gast.
„Wir mussten überleben. Aber es war schwer, ganz schwer.“ Diese Sätze wird Vera Weberová an diesem Mittag mehrmals wiederholen. Als könnte sie es selber gar nicht fassen, dass sie den Horror des Konzentrationslagers Theresienstadt überlebt hat. Mit neun Jahren wurde Weberová mit ihrer jüdischen Familie aus Tschechien deportiert – von ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Großmutter überstanden den Krieg nur ihre Mutter und sie, das kleine Mädchen. Jetzt, mit 83, erzählt sie ihre Geschichte, um die Erinnerung wachzuhalten. Am liebsten spricht sie vor Schülern, wie an diesem Tag in der elften Klasse der Freien Waldorfschule Kaltenkirchen.
„Ich bin gekommen, weil es notwendig ist“, sagt Weberová zu den Schülern. Sechs Millionen Juden sind im Holocaust den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Anderthalb Millionen von ihnen Kinder. „Sie hätten vielleicht Krebs geheilt oder einen Nobelpreis gewonnen“, sagt die Überlebende. Der Raum in der Waldorfschule ist ganz still, alle folgen den Worten der Frau, die mit leiser, ruhiger Stimme eine Geschichte von Hunger, Not und unmenschlichen Taten erzählt. Den Schülern dürfte dieser Vortrag lange in Erinnerung bleiben. „Wir haben ein riesiges Glück, dass Frau Weberová da ist. Es gibt nur noch wenige, die den Nationalsozialismus als Kind erlebt und überlebt haben. Und diejenigen, die eine so lange Reise auf sich nehmen und Vorträge halten, sind noch weniger“, sagt Kerstin Amthor, Lehrerin an der Schule.
Weberová war mehr als zwei Jahre lang im KZ
Weberová verbrachte mehr als zwei Jahre als Kind im KZ Theresienstadt. „Wir hatten in Kyjov, meiner Heimatstadt in Tschechien, eine schöne Wohnung. Ich war ein glückliches Kind.“ 1941 wurde ihr alles von den Nationalsozialisten weggenommen. „Man sagte uns, dass wir später zurück in unsere Heimat dürften. Aber das stimmte nicht.“ Sie hat Fotos von damals, von Kindergruppen aus ihrer Stadt, Dutzenden von Mädchen und Jungs. Auf jedem der Kindermäntel ist ein genähter Stern mit der Aufschrift „Jude“. „Ohne den Stern durften wir nicht raus. Die Hitlerjugend hat das kontrolliert und uns geschlagen“, erzählt die 83-Jährige. „Viele von uns haben später im KZ zusammen gespielt. Aber alle wussten, dass der nächste Tag für sie der letzte sein konnte.“ Die Spielkameraden verschwanden von heute auf morgen, stiegen ein in die Züge. „Wohin sie führten, wussten wir damals nicht“, so Weberová. Nur einige der Kinder auf den Fotos überlebten den Krieg.
Eines Tages wurde auch die Nummer von Weberová ausgerufen – sie sollte nach Auschwitz. „Meine Mutter hat mir das Leben gerettet.“ Vielleicht hat sie es gespürt, vielleicht wollte sie sich von ihrem Kind nicht trennen. Aber als Weberová vor den Waggons stand, riss sie ein Mann weg und versteckte sie. „Bis heute weiß ich nicht, was das meiner Mutter gekostet hat. Aber sie konnte nur eins ihrer Kinder retten.“ Weberovás Bruder und Vater wurden nach Auschwitz transportiert und dort umgebracht. „Der Weg nach Auschwitz hat immer zwei, drei Tage gedauert. Keiner dieser Züge ist jemals gestoppt oder bombardiert worden. Vielleicht wäre der Tod durch die Bomben besser gewesen als der in der Gaskammer.“
Niemand hat damit gerechnet, dass Weberová zurückkehrt
„Das Schlimmste im Konzentrationslager war der Hunger. Es gab in Theresienstadt elf Kasernen mit 8000 Soldaten. Und plötzlich sind wir, die Juden, dazu gekommen – 50.000 Menschen. Es gab weder Platz, noch konnte man für so viele Menschen kochen.“ Jedes Stück Brot ist für die Überlebende heilig, bis heute werde sie traurig, wenn Essen weggeworfen wird. „Meine Mutter musste im KZ Glimmergestein spalten. Wer viel arbeitete, durfte das Essen in die Kasernen bringen, dann bekam man ein kleines Stück Brot. Aber wir durften es nicht frisch essen, aufgeteilt war das eine Mahlzeit für drei Tage.“ Wurde das Brot ganz trocken, gossen sie Wasser darauf, um es aufzuweichen. „Trockenes Brot mit Wasser, für uns in Theresienstadt war das ein sehr gutes Essen.“
Im Mai 1945 kam die Rote Armee nach Theresienstadt und befreite die Überlebenden. Doch zu Hause erwartete Weberová und ihre Mutter niemand. „Das Haus stand leer, alle Möbel waren weg. Es hat keiner gedacht, dass wir jemals zurückkommen.“ Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ergriff in Tschechien die Kommunistische Partei die Macht. Wieder wurde der Familie alles genommen. „Wir mussten für unser eigenes Haus Miete zahlen.“ Mühsam baute sich Weberová ein neues Leben auf, studierte, wurde OP-Schwester, bekam ein Kind von ihrem Mann. Heute leben sie zusammen mit ihrem Sohn, seiner Frau und ihren zwei Enkelkindern in dem alten Haus in Kyjov. „Wir sind glücklich. Was wir uns vor allem wünschen, ist Frieden.“