Kreis Segeberg. Viele Ereignisse sind in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben und viele Geschichten entdeckt.

Ochsenzoller Straße 99 – heute steht dort ein Autohaus, aber vor fast 60 Jahren wurden hier Gesetzesbrecher verurteilt und Grundbuchakten bearbeitet: Genau an dieser Stelle stand ein bescheidenes Einfamilienhaus, in dem von 1959 an das erste Norderstedter Amtsgericht – damals noch Amtsgericht Garstedt – untergebracht war. Und zwar auf recht abenteuerliche Art und Weise. Denn die Mitarbeiter der ersten Stunde hatten mehr mit der Tücke des Objekts (sprich: des Hauses) als mit den anstehenden Rechtsfällen zu kämpfen.

Herbert Paschen, damals Rechtspfleger, später Bürgervorsteher und Landtagsabgeordneter, gehörte zum Personal der ersten Stunde im neuen Garstedter Amtsgericht, das mangels anderer Möglichkeiten in einem in den 30er-Jahren gebauten Einfamilienhaus untergebracht werden musste. Am 1. Oktober 1959 nahmen neun Justizbedienstete unter der Leitung von Amtsgerichtsrat Richard Czesla ihre Arbeit an der Ochsenzoller Straße 99 auf. Zum Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts gehörten die Gemeinden Friedrichsgabe, Garstedt und Hasloh. Im Erkerzimmer fanden die Gerichtsverhandlungen statt, die Grundbuchakten wurden im Keller verwaltet, was ein ums andere Mal zu erheblichen Problemen führte. Herbert Paschen erinnert sich: „Ein Gewitterschauer setzte den Grundbuchkeller unter Wasser und ließ einige Grundbücher in den Fluten versinken.“ Mit geliehenen Jauchepumpen wurde der Keller „in harter Gemeinschaftsarbeit“ wieder trocken gelegt. Die Grundbuchfolianten hatten allerdings nur wenig gelitten.

Die Zustände im Garstedter Amtsgereicht beschäftigte sogar den Kieler Landtag. Nach einem Besuch in diesem Gebäude wetterte der SPD-Abgeordnete Erich Hagenah über die „unwürdige Unterbringung“ in einem „Puppenhaus“. Die Dachkammern eigneten sich als „Studentenbuden“, nicht aber als Amtsgericht. „Der einzige Raum ohne Akten und Schreibtische ist die Toilette.“ Das Grundbuchamt im Keller empfand Hagenah gar als einen „wirklichen Skandal“. Es sei ein Keller, in dem der Schreibtisch auf einem Podium stehe und in dem die Luken dauernd geöffnet seien, um die Moderluft zu beseitigen. „Es ist eine Heizsonne angebracht, und ich stieß mir den Kopf an der Betondecke.“ Von einem Rohrbruch, der fast das ganze Amtsgericht unter Wasser setzte, ahnte der SPD-Politiker damals noch nichts.

Herbert Paschen denkt heute noch mit etwas Wehmut an die Zeiten zurück. „Wir haben schwer gearbeitet, waren aber voll motiviert, weil wir ja in dem jüngsten Gericht des Landes tätig waren. Ich möchte die Zeit nicht missen, denn wer hat schon das Glück, den Aufbau eines Amtsgerichts zu erleben.“

Eine gewisse Besserung trat auch nach der Brandrede des SPD-Politikers Hagenah erst 1963 ein. Dann nämlich wurde die Möglichkeit geschaffen, im Schulungsraum der Feuerwehr Garstedt, ebenfalls an der Ochsenzoller Straße, die Gerichtssitzungen abzuhalten. Am 1. Oktober 1964 wurden dem Garstedter Amtsgericht die Gemeinden Harksheide, Glashütte, Tangstedt und Wilstedt zugeschlagen. Es entstand so eine Keimzelle für den späteren städtischen Zusammenschluss zur Stadt Norderstedt. Die Raumfrage wurde durch die Anmietung weiterer vier Wohnungen in dem Eckhaus Kirchenstraße/Ochsenzoller gelöst. Zu diesem Zeitpunkt war das Amtsgericht also dreigeteilt.

1967 machte das Garstedter Amtsgericht bundesweite Schlagzeilen: Die „Schnellgerichtstage“, initiiert von Amtsgerichtsrat Peter Feldmann, dem späteren Direktor des Norderstedter Amtsgerichts, sorgte für so viel Aufsehen, dass die meisten großen deutschen Zeitungen darüber berichteten. Das war sogar ein Thema für die „Tagesschau“. Das Schnellgericht tagte unter Vorsitz von Peter Feldmann im Sitzungssaal der Gemeinde Glashütte und verurteilte Geschwindigkeitssünder, die unmittelbar zuvor auf der B 432 von der motorisierten Verkehrsbereitschaft Neumünster erwischt worden waren. Zwischen 6 und 13 Uhr fuhren 61 Kraftfahrer wesentlich schneller als das dort zugelassene Höchsttempo von 60 Stundenkilometern. Über eine Funkbrücke nach Flensburg wurden die in der Verkehrssünderkartei eingetragenen Vorstrafen ermittelt. „Während eine Reihe von Kraftfahrern gebührenpflichtig verwarnt wurde, lehnten andere die Verurteilung im beschleunigten Verfahren vor allem deshalb ab, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen“, schrieb damals die Deutsche Presseagentur. Schnellgerichtstage fanden damals in allen Ortsteilen Norderstedts statt, zum Teil wurde auch in Gaststätten getagt, wo Verkehrssündern zwischen Bierhahn und Stammtisch der Prozess gemacht wurde. Es gab Kritik an dem Verfahren, aber auch die Kritiker mussten anerkennen, dass sich die Verkehrsdisziplin verbesserte – vorübergehend jedenfalls. „Das war eine Idee eines Lübecker Amtstrichters, um das Verfahren zu beschleunigen“, sagt Peter Feldmann (83) heute. „Aber ich war der einzige, der das umgesetzt hat.“

1969 zogen die inzwischen rund 40 Mitarbeiter in das neue Gebäude an der Europaallee neben dem Herold-Center. Schon damals war schnell klar, dass dieses Gebäude bald zu klein sein würde. Am 15. September 1986 wurde schließlich das jetzige Amtsgerichtsgebäude an der Rathausallee bezogen. In das Gebäude an der Europaallee zog das Finanzamt ein.

Drei Jahre später war der Bau des Norderstedter Amtsgerichts noch einmal Gegenstand politischer Debatten im Kieler Landtag. Der Landesrechnungshof hatte nämlich herausgefunden, dass nicht nur Büro- und Sitzungszimmer eingebaut wurden, sondern auch eine Sauna, ein Fitnesskeller und ein Partyraum. Und zwar, so heißt es in einem Artikel im Hamburger Abendblatt, „ungenehmigt“. Das bestreitet Peter Feldmann heute noch. Alles sei mit Genehmigung und unter Aufsicht des Landes eingebaut worden. „Das wäre auch kein Thema mehr gewesen, wenn der Landesrechnungshof es später nicht zur Sprache gebracht hätte.“ Der Finanzausschuss des Landtages missbilligte ebenso wie der Landesrechnungshof die „nachträgliche Inanspruchnahme öffentlicher Mittel für in den genehmigten Bauunterlagen nicht enthaltende Bauleistungen“. Ein in der Bauunterlage als Archiv ausgewiesener 500 Quadratmeter großer Raum sei zum Teil als Partykeller „zweckentfremdet“ worden. Auf die Sauna mussten die Mitarbeiter am Amtsgericht Norderstedt dann doch verzichten. Auf Weisung von Justizminister Klaus Klingner (SPD) wurde der Schwitzkasten wieder ausgebaut und einer gemeinnützigen Einrichtung übergeben. Alles andere blieb, weil Innenminister Claussen (CDU) vor dem Regierungswechsel ja ausdrücklich empfohlen hatte, Fitnessräume in neue öffentliche Gebäude einzubauen. Tatsächlich kursierten damals Karikaturen über die Gerichtssauna. Schleswig-Holstein amüsierte sich über das Amtsgericht in Norderstedt.

Heute sind im Norderstedter Amtsgericht rund 100 Personen tätig.