Kreis Segeberg. Viele Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben.

Der Germanenacker ist für Berufs- und Hobbyarchäologen eine feste Größe: Im Bereich der Oberalsterniederung bei Wakendorf II, Nahe, Kayhude und den angrenzenden Gebieten wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte Tausende mesolithische Flintartefakte gefunden. Von 1923 an wurde hier immer wieder gegraben – und gefunden. Der erstaunlichste Fund aber entstand rein zufällig: Vor gut 50 Jahren wurde bei Entwässerungsarbeiten der Schädel eines Auerochsen, auch Ur genannt, entdeckt.

Ingo Clausen, Abteilungsleiter für praktische Archäologie im Archäologischen Landesamt, hat zwiespältige Gefühle, wenn er an den mächtigen knöchernen Schädel denkt: Einerseits ist dadurch bewiesen, dass die mächtigen Auerochsen tatsächlich auch in dieser Gegend gelebt haben. Andererseits hätte der Fund wesentlich spektakulärer ausfallen können, wenn Fachleute und Arbeiter vor Jahrzehnten nicht geschludert hätten. Und schließlich ist es für den Archäologen auch eine gewisse Schmach, dass der Schädel nicht in einem schleswig-holsteinischen, sondern in einem Hamburger Museum ausgestellt ist. Es hätte alles ganz anders kommen können.

Entdeckt wurde der Schädel bei Entwässerungsarbeiten

Es ist unter Fachleuten bekannt, dass sich der Auerochse etwa 9000 Jahre vor Christi hier angesiedelt hat. Ursprünglich aus Indien kommend, besiedelte er vor 250.000 Jahren ganz Vorderasien, Europa und Nordafrika. Sein Lebensraum waren offene Wälder, wo er sich von Gräsern, Eicheln und Laub ernähren konnte. Ausgewachsene Stiere erreichten eine Körperlänge von bis zu 3,10 Meter und wogen bis zu 1000 Kilogramm. Mächtige Burschen also, die mit Pfeilspitzen nur schwer zu bejagen waren.Trotzdem starb das Ur durch intensive Bejagung, aber auch durch Rodungen der Wälder Anfang des 17. Jahrhunderts aus. Die letzte Ur-Kuh wurde 1627 in Polen gewildert. Ein Gedenkstein erinnert noch heute an dieses Tier. Vom letzten Bullen, der 1620 starb, ist ein Horn geblieben, das goldverziert in einer Rüstkammer in Stockholm aufbewahrt wird.

Wann der Auerochse aus der Oberalsterniederung lebte, lässt sich nicht sagen, weil das genaue Alter der Schädelknochen nie bestimmt worden ist. Als der Schädel bei Entwässerungsarbeiten entdeckt wurde, waren Archäologen schnell zur Stelle. Die kamen allerdings nicht aus Schleswig-Holstein. Der Besitzer des Gutes Jersbek, zu dem der Landstrich gehört, schaltete Gernot Tromnau, den späteren leitenden Museumsdirektor des Kultur- und Stadthistorischen Museums Duisburg, ein. Der war damals Vertrauensmann für Vor- und Frühgeschichte in Deutschland. Zusammen mit Hamburger Archäologen, die der Duisburger Fachmann anstelle von Experten aus Schleswig-Holstein hinzugezogen hatte, erkundete er die Fundstelle und entdeckte durch Abtasten des Untergrunds weitere Knochen, die offenbar den Rippen des Tieres zuzuordnen waren.

Genaue Fundstelle ist in Vergessenheit geraten

Das war’s. Der mächtige Schädel des Auerochsen landete im Harburger Helms-Museum, dem archäologischen Museum Hamburgs. Die übrigen Knochen blieben in der Erde. Warum? Ingo Clausen kann diese Frage heute nicht mehr beantworten. Es wäre vermutlich einfach gewesen, sie noch an Ort und Stelle auszugraben, aber es wurde nicht gemacht. Das ist nicht nur für Ingo Clausen bedauerlich: „Es gibt in Schleswig-Holstein kein einziges erhaltenes Skelett von einem Auerochsen, in anderen Ländern schon.“

Die Knochen blieben also im Moor, der Zulauf zur Alster wurde mehrfach verändert, sodass der genaue Fundort in Vergessenheit geriet.

Im Jahr 1989 nahm das schleswig-holsteinische Landesamt für Vor- und Frühgeschichte noch einmal einen Anlauf, weil das Gelände renaturiert werden sollte. Die Arbeiten gestalteten sich allerdings sehr mühselig.. Der Gutsarbeiter, der den Schädel gefunden hatte, war verstorben. Die genaue Fundstelle konnte nicht mehr lokalisiert werden. Anhand von Karten gelang es zwar, das Gebiet einigermaßen einzukreisen, doch Grabungsarbeiten blieben erfolglos. Abgesehen von einzelnen Knochen, die dem Handwurzelknochen der linken Vorderhand des Urs zugeordnet werden konnten, blieb die Suche ergebnislos. Ingo Clausen hält es auch für möglich, dass das Skelett tatsächlich ausgegraben wurde, aber in andere Hände gelangt ist. Das wird man vermutlich nicht mehr feststellen können.

Wer heute nachspüren möchte, wie die Auerochsen vor Hunderten oder Tausenden von Jahren in den nördlichen Regionen der Erde gelebt haben, bekommt im Helms-Museum in Harburg, Museumsplatz 2, einen guten Eindruck. Besucher können sich den eindrucksvollen Schädel des Urs oder Auerochsen gut ausgeleuchtet in einem Diorama zusammen mit anderen prähistorischen Ausstellungsstücken ansehen.

In den 1930er-Jahren des begannen die Brüder Heck in den Zoologischen Gärten Berlin und München, den Auerochsen aus urtümlichen Hausrindrassen durch planmäßige Kreuzungen zurückzuzüchten. Nach mehreren Generationen erhielt man ähnliche Tiere. Es blieb aber bei kleineren Hausrindern, da eine einmal ausgestorbene Tierart auch durch Rückzüchtung nicht „wiederherstellbar“ ist.

Archäologisches Museum Hamburg, Museumsplatz 2, geöffnet Di. bis So. von 10 bis 17 Uhr, Erwachsene 6 Euro, ermäßigt 4 Euro (bis 17 Jahre freier Eintritt), www.amh.de