Kreis Segeberg. Viele Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Abendblatthat sich auf Spurensuche begeben und Geschichten entdeckt.
Hundert Meter von der Reichskanzlei, vom Reichspropagandaministerium entfernt, steht die Synagoge. Brennt die Synagoge? Nein, sie brennt nicht, ein kleines Feuer wird gelöscht, die Polizei drängt den Pöbel zurück, drängt sogar SA-Männer in ihren Uniformen zurück. Goebbels tobt am Telefon. Was ist passiert? Ein Mann hat es verhindert, Wilhelm Krützfeld, ein Polizeioffizier, der wird gerufen, eine Menschenmenge habe sich vor der Synagoge an der Oranienburger Straße versammelt, randaliere, werfe Scheiben ein, habe Gebetsbücher auf die Straße geworfen, der Mann Krützfeld kommt und gibt den Befehl, die Synagoge und die darin Weilenden zu schützen, lässt den Pöbel zurückdrängen, lässt das Feuer löschen. Der Mann Krützfeld schreitet ein.“ So beschreibt der Schriftsteller Uwe Timm in seinem bekannten Roman „Rot“ aus dem Jahre 2001 die Situation. Wenige Zeilen später heißt es: „Ein Mann, der nicht wegschaut, der Nein sagt, dessen Name ich nochmals nenne, damit er nicht vergessen wird, Krützfeld.“
Wer also ist dieser Mann, Wilhelm Krützfeld, dem auf dem Potsdamer Platz in Berlin ein Gedenkstein gewidmet ist? Nicht in der Bundeshauptstadt, sondern im kleinen, viel älteren Berlin im Kreis Segeberg, einem Ortsteil der Gemeinde Seedorf. In Hornsdorf, einem anderen Ortsteil von Seedorf, wurde der später als Held verehrte Mann am 9. Dezember 1880 geboren, im großen Berlin verstarb er am 31. Oktober 1953 – nicht vergessen, sondern als geachteter Mann. Die Stadt Berlin widmete ihm ein Ehrengrab, und die Bronzetafel an der Wand neben der Synagoge an der Oranienburger Straße erinnert an seine Tat, die ihn zu einem Helden in Zeiten des Duckmäusertums gemachte hat: „Der Berliner Polizeibeamte Wilhelm Krützfeld (1880-1953) bewahrte in der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 durch mutiges und entschlossenes Eingreifen diese Synagoge vor Zerstörung.“
Wilhelm Krützfeld berief sich auf das Wort des Kaisers
Der Geehrte hat getan, wofür er stand: Er hat Gesetz und Ordnung verteidigt und sich gegen den Bruch des Rechts gestellt. Heute eine Selbstverständlichkeit, aber 1938 waren es eben andere Zeiten. Da erforderte es viel Mut, sich gegen die Obrigkeit zu stellen und damit womöglich seine berufliche Stellung oder sogar sein Leben und das seiner Familie zu riskieren. Zivilcourage und gesunder Menschenverstand wird das genannt.
Die Neue Synagoge
Die Synagoge an der Oranienburger Straße stach mit ihrer vergoldeten Kuppel hervor – sie war Symbol des jüdischen Lebens in Berlin. Für die Nationalsozialisten war sie von hohem symbolischen Wert. Mehr als andere Synagogen, die in jener Nacht brannten. Die Feuerwehren hatten den Befehl, nicht auszurücken, um brennende Synagogen zu löschen. Aber ausgerechnet diese Synagoge stand am nächsten Morgen noch. Beschädigt, aber erhalten. Wilhelm Krützfeld und ein ihm untergebener Beamter namens Otto Bellgardt haben es verhindert. Die Nazis beriefen sich auf Adolf Hitler, Krützfeld auf den Denkmalsschutz und das Wort Kaiser Wilhelms.
Zwei Männer zwangen die SA zum Rückzug
Das Dokument über die Schutzwürdigkeit des Gebäudes hatte er in der Manteltasche, die Pistole in der Hand, als er den SA-Männern gegenübertrat. Er erzwang zusammen mit Otto Bellgardt ihren Rückzug und beorderte die Feuerwehr zur Synagoge.
Wer war Wilhelm Krützfeld? Er diente bis 1907 in der Preußischen Armee bei der Garde in Spandau und wurde dann Polizist. Nach längerem Dienst im Landespolizeiamt und im Berliner Polizeipräsidium übernahm er in den 1930er-Jahren das Polizeirevier 65 am Prenzlauer Berg und leitete 1938 als Polizeioberleutnant das Polizeirevier 16 am Hackeschen Markt im Bezirk Mitte. Zu seinem Revier gehörte auch die Oranienburger Straße bis zur heutigen Tucholskystraße – und damit der Block mit der neuen, im Jahr 1886 erbauten Synagoge, die als eine der schönsten in Deutschland galt.
Wilhelm Krützfeld war kein heroischer Antifaschist, er war preußischer Staatsbeamter. Aber er war ein Beispiel dafür, dass man auch im Alltag dem nationalsozialistischem Wahnsinn etwas entgegensetzen konnte. Auch das ist erstaunlich: Die Tat hatte für ihn kein Nachspiel. Obwohl bekannt war, dass er als Revierleiter verantwortlich für das Zurückdrängen der SA-Männer war, blieb er im Amt.
Am nächsten Tag wurde er von Polizeipräsident Wolf Heinrich Graf von Helldorf zum Rapport einbestellt und ermahnt. Mehr passierte nicht. Wohl auch deshalb, weil der Polizeipräsident ein heimlicher, aber aktiver Regime-Gegner war. Graf Helldorf wurde 1944 als Mitverschwörer beim Hitler-Attentat hingerichtet. Erst zwei Jahre später wurde Krützfeld versetzt, weitere drei Jahre danach ging er freiwillig in den Ruhestand.
Vielleicht hätte heute niemand etwas über das Leben und Wirken von Wilhelm Krützfeld erfahren und gewusst, wenn ihm nicht der Schriftsteller Heinz Knobloch ein literarisches Denkmal gesetzt hätte. In seinem Buch „Der beherzte Reviervorsteher“ beschrieb er das Leben und Wirken des Polizeibeamten.
Danach war die Rettung der Synagoge nicht Krützfelds einzige Aktion zur Rettung von Juden in seinem Revier. Wenn er Verwaltungslisten von Juden erhalten hatte, habe er sie vor Durchsuchungen gewarnt. Zudem sei er vorzeitig in Pension gegangen, weil er ahnte, dass die Berliner Polizei Beihilfe leisten sollte bei der Deportation von Juden, schreibt Knobloch.
Nach Kriegsende trat Krützfeld 1945 wieder in den Polizeidienst ein und half beim Aufbau der Berliner Polizei. 1947 leitete er die neue Inspektion im sowjetischen Sektor der Stadt. 40 Jahre nach seinem Tod ehrte ihn die Landespolizei Schleswig-Holstein. Sie benannte die Landespolizeischule Schule in Eutin-Kiebitzhörn nach ihm. Dort gibt es sogar eine Dauerausstellung: Sechs große Schautafeln, auf denen das Leben und Wirken von Wilhelm Krützfeld dargestellt wird, hängen in einem Flur der Polizeischule. 2008 wurde im kleinen Berlin im Kreis Segeberg der Gedenkstein auf dem Potsdamer Platz aufgestellt.
Wilhelm Krützfeld war verheiratet und hatte zwei Söhne.