Norderstedt. Jugendgericht muss Streit rekonstruieren, um die Wahrheit herauszufinden – das Problem: Das Opfer ist nicht aufzufinden.
Nach einer Schlägerei mit mehreren Beteiligten ist die Aufklärungsarbeit des Gerichts oft mühselig. Wer hat angefangen, was war das Motiv, wer war Täter und Opfer? Antworten auf diese Fragen zu finden, war auch die Aufgabe von Richterin Claudia Neumann. Sie musste beim Jugendgericht Norderstedt den genauen Ablauf eines handfesten Streits rekonstruieren, bei dem nach dem ersten Verhandlungstag nur feststand, dass er stattgefunden hat.
Gefährliche Körperverletzung lautete die Anklage gegen eine 20 Jahre alte Frau. Sie soll im Februar einer ehemaligen Freundin im Verlauf eines lautstarken Streits mehrfach ins Gesicht geschlagen haben. Außerdem hat sie ihr Opfer laut Anklage mindestens dreimal mit Füßen traktiert.
„Es verlief genau umgekehrt“, behauptete die Angeklagte. Sie habe niemals geschlagen und auch nicht zugetreten. Nach ihrer Darstellung sei die Ex-Freundin wütend auf sie losgegangen und rabiat geworden.
Bei den polizeilichen Ermittlungen hatte das verprügelte Opfer den Tatverlauf genau andersherum geschildert. Sie sei niemals eine Täterin gewesen. Als Hauptzeugin geladen, war die junge Frau aber nicht zur Hauptverhandlung erschienen.
Unbestritten blieb in der Beweisaufnahme nur, dass die Angeklagte mit drei Begleiterinnen zur einstigen Freundin gefahren war, um dort „ein paar Klamotten von mir zurückzuholen“. Die letzte Begegnung um 5 Uhr morgens sollte der Schlusspunkt einer monatelangen Liebesbeziehung sein. „Dann lief alles aus dem Ruder“, sagte die 20-Jährige. Im Verlauf ihrer Vernehmung gestand die Angeklagte, dass das Paar nach dem Streit wieder zusammengekommen war. Drei Monate später sei dann aber endgültig Schluss gewesen.
Was damals genau ablief, sollten Zeuginnen aufklären. Deshalb begann der Aufmarsch der miteinander eng befreundeten Frauen, die damals beim Streit dabei waren. Schnell wurde aber deutlich, dass keine die Angeklagte belasten wollte. Eine verwies auf Erinnerungslücken, eine weitere Zeugin stand zur Tatzeit angeblich zu weit weg vom Geschehen. Allein eine 17-Jährige, vor deren Haustür die Prügelei ablief, schien nicht befangen. Sie hatte aus ihrem Wohnungsfenster gesehen, wie vier Personen abwechselnd auf eine junge Frau einschlugen. „Mehr weiß ich aber auch nicht“, so die Zeugin.
Der Prozess wird fortgesetzt. Dann soll auch das angebliche Opfer aussagen – das Problem: Keiner weiß, wo die junge Frau momentan steckt.