Norderstedt . Die einen hatten in jungen Jahren kein Geld, die anderen keine Zeit. Doch es ist nie zu spät, ein Musikinstrument zu erlernen.
Babys hören Mozart in Mutters Bauch, Kleinkinder gehen zur Musikalischen Früherziehung, Grundschüler lernen flöten und trommeln, es folgen Geige, Cello, Schlagzeug, Preise beim Wettbewerb Jugend musiziert und Solo-Auftritte beim Weihnachtskonzert. Doch was machen alle jene Menschen, die jenseits der 60 sind? Können Männer und Frauen in den „besten Jahren“ noch ein Musikinstrument lernen? Immerhin wird dem aktiven Musizieren attestiert, dass es fit und glücklich macht und sogar vor Demenz schützen kann.
„Fit? Glücklich? Und wie!“, sagt Klavierschülerin Christa Hunger, die mit 73 Jahren begeistert die schwarzen und weißen Tasten bespielt. Ihre Mutter war Klavierlehrerin, sie durfte als älteste von vier Töchtern Unterricht nehmen, doch „ich habe es nur bis zum Flohwalzer geschafft“. „Meine Mutter spielte, um sich zu entspannen. Und wenn sie Ehekrach hatte, haute sie zornig in die Tasten“, sagt Christa Hunger. Als sie langsam auf die 65 Jahre zuging, erinnerte sie sich an ihre pianistischen Anfänge. Als ihr eine Kollegin ein Klavier anbot, fackelte die Seniorin nicht lange. Sie kaufte das schneeweiße Klavier und wollte es stimmen lassen. Doch der Klavierstimmer lehnte ab: „Das können Sie nur noch als Bar benutzen.“ Christa Hunger aber hatte schon einige Stunden Klavierunterricht genommen und wollte endlich ihren Kindheitstraum umsetzen. Und so besorgte sie sich ein neues Klavier, obwohl Freunde unkten: „Wie kann man sich in deinem Alter noch ein Klavier kaufen!“
„Es war eine große Herausforderung, doch ich merkte, wie gut mir das Klavierspielen und auch das Lernen tat“, sagt sie. „Ein Musikinstrument zu lernen, ist besonders im Alter von hohem Nutzen, denn es trainiert den Kopf und die Koordination der Hände und Füße mit dem Kopf. Das Spielen baut Stress ab, und wenn ich mir ein Stück erarbeitet habe, bin ich einfach glücklich“, sagt Christa Hunger.
Außerdem würde sie jetzt anders, genauer und besser hören, und das Lernen des Instruments habe sie aktiver und offener für Neues gemacht. Jetzt singt die ehemalige Sekretärin auch im Chor der Paul-Gerhardt-Kirche. „Das Spielen von Musik hat mir eine neue Welt eröffnet“, sagt Christa Hunger. Am liebsten spielt sie Klassik, aber auch gern ein Volkslied. „Ich kann jedem nur empfehlen, im Alter ein Musikinstrument zu spielen“, lautet die Botschaft der 73-Jährigen.
Auch Ingeborg Thoma schätzt die entspannende Wirkung des Musizierens. Die Norderstedterin ist 65 Jahre alt, pensionierte Mathematik-, Physik- und Sportlehrerin und hat schon als Schülerin Flöte gespielt. Doch mit dem Abitur war Schluss damit, das Studium und andere Interessen verdrängten das Instrument. „Als Kind habe ich sogar Zither gespielt“, sagt Ingeborg Thoma. Der Anreiz, wieder ihre Querflöte auszupacken, kam, als sie erfuhr, dass die Norderstedter Musikschule auch Erwachsene unterrichtet. Seit 1988 lernt sie Querflöte bei Musiklehrer Marek Bartkiewicz, und mittlerweile spielt sie Sätze aus der Holberg-Suite von Edvard Grieg ebenso wie das Concerto g-Moll von Heitor Villa-Lobos.
„Der Anfang war schwer, weil das Lernen mit zunehmendem Alter nicht mehr so flott geht“, sagt die Lehrerin. Doch da sie beim Musizieren keinem Erfolgszwang ausgesetzt ist, es ihr aber andererseits viel Entspannung gibt, hat sie die Querflöte nicht wieder eingepackt. „Die Flöte ist ein gutes Gegenmittel zum Sporttraining, und das Spielen so ganz für mich gibt mir viel Kraft für den Alltag“, sagt Ingeborg Thoma. Das Musizieren sei Balsam für die Seele, zumal sie im Querflöten-Kreis von Marek Bartkiewicz gute Freunde gefunden habe. „Jedes Kind sollte ein Musikinstrument lernen, denn das Musizieren hält auch im Alter fit und jung“, sagt Ingeborg Thoma.
Erhardt Gülstorf trommelt seit einem Monat, seit er Rentner geworden ist. „Das ist ein Jugendtraum von mir“, sagt der Vater von vier Kindern und sechs Enkelkindern. Das Trommeln ist für ihn Entspannung pur. „Ich wollte was für meinen Kopf machen und die körperliche und geistige Beweglichkeit trainieren“, sagt der Programmierer. Einmal in der Woche nimmt er Unterricht an der Norderstedter Musikschule. Der Ellerauer hat die Trommel gewählt, weil sie leichter zu spielen sei als andere Instrumente. Trotzdem habe er anfangs seine Zweifel gehabt, weil er kein Licht beim Üben gesehen habe. „Man muss durchhalten, denn als ich ein Stück richtig gut trommeln konnte, war das ein gutes Gefühl“, sagt Erhardt Gülstorf. „Die Synapsen werden genauso trainiert wie die Koordination von Kopf und Händen“, sagt der Mann, der sich auch auf seinen „Bock“, sein Motorrad setzt, mit seiner Frau tanzen geht, Tischtennis spielt, beim Camping gern den eigenen Fisch angelt und – gern bügelt.
Auf die Trommel haut auch Günther Kirchner, dazu noch auf Pauke und Becken, Tomtom und Teller, Snares und Hi-Hat. Der 60-jährige Norderstedter hat das Schlagzeug für sich entdeckt. „Das Schlagzeug hat mich schon als Jugendlicher fasziniert, und in den 60er-Jahren war ich voll drin im Beat und Pop“, sagt der Psychologe und Vater dreier Kinder. Das Schlagzeug „macht ein schönes Gefühl“. Zudem sei er sicher, dass das Spielen eines Instruments der Demenz vorbeuge. „Wer Schlagzeug spielt, muss Kopf, Arme und Füße koordinieren, außerdem werden Gefühle und Denken in die gleiche Richtung geführt“, sagt Günther Kirchner. Seit er Schlagzeug spielt, fühle er sich jünger und viel motivierter.
Der Lehrer sagte: „Sie haben Hände wie Schraubstöcke“
Schwerer als Schlagzeug und Trommel ist das Spielen auf der Geige. Solo-Geiger, Geigenlehrer und Dirigent Gabriel Voicu weiß, wovon er spricht. Und seine Schüler der älteren Semester erst recht. „Ich hatte vor fünf Jahren die Wahnsinns-Idee, dass ich Geige spielen will“, sagt Thomas Weidemann. Da war er 53 Jahre alt. Irgendwann hat er im Abendblatt von Geigenlehrer Voicu gelesen und dachte: Das ist mein Mann. Der allerdings attestierte seinem Schüler erst einmal, dass er „Hände wie Schraubstöcke“ habe. Dabei geht Thomas Weidemann als Goldschmied durchaus mit einer filigranen Materie um. „Schon kleinste Fortschritte machen mich glücklich, und ich vergesse den Alltag völlig, wenn ich Geige übe“, sagt Weidemann. Das Geigespielen würde „die Festplatte reinigen“ und halte geistig wie emotional fit.
„Geige tut gut, obwohl sie manchmal auch hässlich zu einem ist“, sagt Walter Schindler. Der 57-jährige Unternehmer aus Henstedt-Ulzburg hatte sich schon als Student eine Geige gekauft, aber das Geld für den Unterricht fehlte. Seit 2013 lernt er bei Gabriel Voicu. „Mein Beruf und das Geigespielen sind zwei Welten, der Beruf ist die Pflicht, die Geige die Kür, sie zeigt einem zudem, wie man gerade gelaunt ist, und gibt mir ein großes Freiheitsgefühl, besser als jede Psychotherapie“, sagt Walter Schindler.
Seit neun Jahren spielt Sibylle Zechel wieder Geige. Die ersten Bogenstriche machte sie als Kind, doch rasch waren andere Interessen stärker. „Seit ich Geige spiele, höre ich neu, ich sehe die Noten und kann gar nicht anders, ich muss spielen, am liebsten Stücke von Johann Sebastian Bach“, sagt die Apothekerin.
Das Geigespielen würde ihr helfen, über den Horizont des Berufs hinauszublicken, sich neue Welten zu eröffnen. „Man bekommt auch mehr Respekt vor der Leistung anderer und wird bescheidener, wenn man ein Musikinstrument spielen lernt“, sagt Sibylle Zechel.