Bad Segeberg. Vor sechs Jahren gründete Dr. Uwe Denker die erste bundesweite „Praxis ohne Grenzen“, jetzt appelliert er an die Politik.
Vor sechs Jahren gründete Dr. Uwe Denker in Bad Segeberg die bundesweit erste „Praxis ohne Grenzen“. Menschen ohne Krankenversicherung können sich dort kostenlos ärztlich behandeln lassen. Mittlerweile ist das Angebot etabliert, ein Netzwerk aus ehrenamtlich tätigen Ärzten und Helfern ist entstanden. Doch das Problem ist nicht behoben.
„Jetzt ist die Politik gefordert, endlich einen Paradigmenwechsel einzuleiten“, fordert Dr. Uwe Denker. Mit seinem Vorreiter-Projekt, der „Praxis ohne Grenzen“, hat er in den vergangenen Jahren über 1000 Menschen geholfen. Die Hälfte der Hilfesuchenden kam direkt in seine Sprechstunde, die jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr stattfindet. Die andere Hälfte hat der Familienarzt im „Ruhestand“ am Telefon beraten. „Telefonisch bin ich immer für die Patienten da – und jeder von ihnen ist extrem dankbar.“ Die vielen positiven Rückmeldungen sind die größte Motivation für den Mediziner.
Entstanden ist die Idee einer Praxis ohne Kasse aus der Beobachtung, dass immer mehr Menschen in finanziellen Notlagen den Weg in eine Arztpraxis scheuen, weil sie gar nicht oder nicht ausreichend krankenversichert sind, Gebühren nicht zahlen können oder Behördenwege nicht kennen. Die meisten kommen aus der Mittelschicht – selbstständige Unternehmer und Handwerker, die nach unterschiedlichen Schicksalsschlägen ihre Versicherungsbeiträge einfach nicht mehr bezahlen können. Sie haben eine chronische Diabetes-Erkrankung, Bluthoch-druck, aber auch psychische Leiden wie Depressionen. Denker und sein Team gehen davon aus, dass – vor dem Flüchtlingsstrom – etwa 800.000 Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland lebten.
Fünf Ärzte wechseln sich bei Sprechstunden ab
Die Praxisräume – eine ehemalige Küsterwohnung am Kirchplatz in Bad Segeberg – sind wie eine übliche Hausarztpraxis ausgestattet: Da gibt es neben der Behandlungsliege das Ultraschallgerät, ein EKG und sogar einen Augenarzt-Untersuchungsstuhl. Alle Geräte wurden mithilfe von Spenden finanziert. „Dafür sind wir wirklich sehr dankbar“, sagt Uwe Denker. „Wir erhalten wirklich viele Spenden. Davon konnten wir im vergangenen Jahr beispielsweise Medikamente im Wert von insgesamt 20.000 Euro kaufen.“
Gemeinsam mit vier weiteren Ärzten wechselt er sich bei den Sprechstunden am Mittwoch ab, zwei Arzthelferinnen, unter anderem auch seine Frau Christa, assistieren jeweils. Zudem stehen bei Bedarf 70 weitere ehrenamtliche Kräfte, vom spezialisierten Facharzt bis zum Sozialarbeiter, zur Verfügung. Das Wartezimmer war früher einmal eine Küche. Darin hängt eine große Weltkarte mit vielen kleinen Fähnchen. Denn nicht nur aus der Bundesrepublik erreichen Denker Hilferufe, sondern auch aus dem Ausland. Die Liste der Länder, aus denen die Patienten kamen, füllt schon ein DIN-A4-Blatt. Polen, Portugal und sogar Peru sind nur einige Beispiele.
Initiative hat vier Ziele
Flüchtlinge kamen bislang wenige in die Sprechstunden in Bad Segeberg – doch kürzlich machte Uwe Denker bei einem neunjährigen syrischen Flüchtlingskind einen seiner seltenen Hausbesuche und verschrieb ihm ein wichtiges Asthma-Medikament. Allerdings kommt das Praxis-Team auf anderem Wege mit Flüchtlingen in Kontakt. So hospitierte kürzlich eine syrische Ärztin für Kinder- und Allgemeinmedizin in der Praxis ohne Grenzen, bald möchte sie regelmäßig helfen – vielleicht werden dann sogar noch die Räumlichkeiten ausgebaut. „Aber sie muss natürlich noch Deutsch lernen“, sagt Denker, dem aktuell auch noch ein ganz anderes Schicksal kaum Ruhe lässt: das einer angesehenen mongolischen Künstlerin, Nara Davaasuren, die dringend eine Lebertransplantation braucht. Organspender gibt es bereits, doch die 250.000 Euro für die Operation an der Berliner Charité müssen erst noch aufgebracht werden. „Ich habe sogar schon mit der Botschaft telefoniert, die Löhne in der Mongolei sind so niedrig, dass man das Geld dort nie zusammenbekäme. Ich hoffe, wir können mit einer Benefizaktion etwas erreichen“, wünscht sich der Arzt. Fälle wie diese hat Dr. Uwe Denker in den vergangenen Jahren viele erlebt. 14 davon hat er nun in einem eigenen Buch veröffentlicht; zeigen vom akut suizidgefährdeten Patienten bis zur jungen schwangeren Frau die große Bandbreite an medizinischer Beratung und Hilfeleistung der „Praxis ohne Grenzen“. Ganz besonders liegen dem 77-Jährigen die Kinder am Herzen. „Das Problem ist, dass Kinder von nicht krankenversicherten Eltern automatisch ebenfalls nicht versichert sind. Das muss sich ändern“, so Denker. Die Initiative „Praxis ohne Grenzen“ fordert daher die Einrichtung einer beitragsfreien Krankenversicherung für alle in der Bundesrepublik lebenden Kinder und Jugendlichen.
Der Patientenzustrom wächst stetig an
Die Idee der „Praxis ohne Grenzen“ verbreitet sich von Schleswig-Holstein aus, wo es inzwischen acht solcher Praxen gibt, auf die ganze Bundesrepublik. 2014 folgten Hamburger Kollegen seinem Beispiel – die von Prof. Dr. Peter Ostendorf, ehemaliger Chefarzt des Marienkrankenhauses, gegründete Praxis bietet im Stadtteil Horn auf 300 Quadratmetern medizinische Beratung und Behandlung an.
Da der Patientenzustrom in den vergangenen drei Jahren immer weiter zugenommen hat, ist die Initiative „Praxis ohne Grenzen“ in Bad Segeberg und das damit verbundene humanitäre Engagement fast selbst an eine Grenze gelangt. Schließlich könne diese Art der medizinischen Versorgung nur eine provisorische Zwischenlösung sein, macht Denker deutlich. „Eigentlich wollen wir überflüssig werden. Wir haben das Leck im Schiff entdeckt, jetzt ist die Politik gefordert.“ Deshalb möchte Denker, der jede Gelegenheit nutzt, um mit Politikern wie Martin Schulz Gespräche zu führen, sich auch bald einen Termin beim Gesundheitsminister in Berlin holen. „Der hat die Lage offenbar noch nicht verstanden!“
Die Praxis ist mittwochs von 15 bis 17 Uhr unter der Telefonnummer 04551/95 50 27 zu erreichen.
Spenden für die „Praxis ohne Grenzen“: Volksbank-Raiffeisenbank eG, Neumünster, IBAN: DE61 2129 0016 0056 800 000, BIC: GENODEF1NMS.