Norderstedt. Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Wir erzählen die Geschichte der Gedenkorte in Norderstedt für die Opfer.

Sie lernten Kühe melken, das Feld umgraben und Kartoffeln ernten. Alles Tätigkeiten, von denen die Jugendlichen aus Hamburg bis dahin kaum etwas ahnten. Doch ihre unbeschwerte Jugend endete jäh mit dem 30. Januar 1933. Hitler ergriff die Macht in Deutschland und damit der Rassenwahn. Die jungen Menschen waren Juden. Sie hatten nur noch eine Chance, die Aliyah, die Auswanderung ins damalige britische Mandatsgebiet, die Region Palästina im Nahen Osten, ihr Erez Israel, ihr Heiliges Israel.

Seit 2008 erinnert eine Stolperstele an die jungen Juden. Sie steht vor der Einfahrt zum ehemaligen Brüderhof in Norderstedt, damals Harksheide, einer Einrichtung der evangelischen Stiftung Rauhes Haus, auf dem sich die jungen Juden auf die Auswanderung nach Erez Israel vorbereiteten. Die ersten jüdischen Jugendgruppen bezogen den Hof im Mai 1934, die letzten verließen ihn im April 1939.

Stelen entstanden in Anlehnung an Stolpersteine

Initiiert und aufgestellt wurden die vier Stelen, ein Werk des Norderstedter Bildhauers und Kulturpreisträgers Thomas Behrendt, vom Norderstedter Kulturverein Chaverim – Freundschaft mit Israel mit Unterstützung des städtischen Kulturbüros. Sie entstanden in Anlehnung an die Stolpersteine, die der Künstler Gunter Demnig in Gedenken an die jüdischen Opfer in europäischen Städten verlegt.

Die Stolperstele für die jungen Juden, die auf dem Brüderhof in Landwirtschaft ausgebildet wurden, stehen im Ortsteil Harksheide
Die Stolperstele für die jungen Juden, die auf dem Brüderhof in Landwirtschaft ausgebildet wurden, stehen im Ortsteil Harksheide © Heike Linde-Lembke | Heike Linde-Lembke

Bis zu 40 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 30 Jahren lebten zeitweilig auf dem Hof und absolvierten eine Hachschara (hebräisch, Ausbildung) als Vorbereitung für ihre Aliyah (hebräisch, Auswanderung). Sie lernten Haus- und Landwirtschaft, bauten Torf im Zwickmoor ab, arbeiteten bei benachbarten Bauern und wurden vom Landwirt Ernst Heinrich Leuschner zum landwirtschaftlichen Arbeiten angeleitet. Obwohl Leuscher seit 1937 NSDAP-Mitglied war, versuchte er, einige Jugendliche vor der Deportation zu retten, als die Nazis sie am 28. Oktober 1938 gewaltsam abholten.

Doch auch Leuschner hatte keine Chance. Die Jugendlichen wurden mit 1000 Juden von Hamburg-Altona in Konzentrationslager im von Deutschland besetzen Polen deportiert. Auch in der Reichspogromnacht verhafteten die Nazis junge Juden auf dem Brüderhof. Im März 1939 flohen die letzten Jugendlichen ins noch sichere Dänemark und nach England. Anderen gelang die Auswanderung ins damalige britische Mandatsgebiet.

Ab April 1939 wohnte noch eine neue Gruppe jüdischer Jugendlicher auf dem Brüderhof, darunter Berta Kern, die heute Batia Amorai heißt und in Jerusalem lebt. Während der Zeit, als sich die jungen Juden auf dem Brüderhof auf ihre Aliyah vorbereiteten, standen an den Ortseingangs-Schildern der umliegenden Dörfer die Schilder „Juden unerwünscht“.

Emanuel Strauss wurde im KZ Theresienstadt gefoltert

Heute vor genau 70 Jahren kam Emanuel Strauss wieder nach Haus, zu seiner Familie am Langen Kamp 161 in Garstedt. Er war ein gezeichneter Mann, gefoltert und entwürdigt. Emanuel Strauss kam aus dem KZ Theresienstadt. Noch im Februar 1945 verschleppten ihn die braunen Machthaber in das Lager. An ihn erinnert eine Stolperstele am Langen Kampf 161, in dem Emanuel Strauss, geboren am 25. Dezember 1880, mit seiner Ehefrau Magda Strauss und Tochter Henriett lebte. Im Ersten Weltkrieg war er von 1914 bis 1918 Sanitätsgefreiter. Von April 1923 bis 31. Dezember 1935 arbeitete er als Buchbindermeister bei der Hamburger Warburg-Bank. Als Hamburgs NS-Senat die jüdische Bank enteignete, entließen die neuen „arischen“ Besitzer den Juden Strauss. In der Reichspogromnacht vom 9. auf 10. November 1938 verhaftete ihn die Gestapo und deportierte ihn für vier Monate ins KZ Sachsenhausen. Im Februar 1945, nur wenige Tage, nachdem die Sowjetarmee das Todeslager Auschwitz befreit hatte, wurde er noch ins KZ Theresienstadt verschleppt.

Trotz allen Unrechts, trotz aller Demütigungen und staatlicher Willkür wurde ihm nach Kriegsende jede Wiedergutmachung verweigert. Zermürbt vom Kampf mit den Behörden wanderte die Familie Strauss in die USA aus. Emanuel Strauss starb im Februar 1950 an Krebs. Vom Erlös aus dem Verkauf seines Hauses am Langen Kamp blieben der Familie aufgrund Steuern und Anwaltskosten nur 100 D-Mark übrig.

Emanuel Strauss hatte elf Geschwister. Sie und ihre Familien wurden in den Todeslagern ermordet. Magda Strauss’ Verwandte brachen die Beziehung zu ihr ab, da sie zu ihrem jüdischen Ehemann hielt. Die vom Nazi-Regime geforderte Scheidung lehnte sie ab. Auch Tochter Henriett traf der Rassenwahn hart. Den Nachbarskindern war es verboten, mit ihr zu spielen. Die Realschule Garstedt durfte sie nicht mehr besuchen. Auf ihrem Schulweg von ihrer Schule Niendorfer Straße bis zum Langen Kamp wurde sie mit Steinen beworfen. Doch es gab auch Hilfe. Die Familie Warncke, die eine Bäckerei betrieb, und Landwirt Stolten versorgten die Familie Strauss heimlich mit Lebensmitteln, eine Hilfsaktion, die sie ins KZ hätte bringen können.

Im September 1987 besuchte Henriett Strauss mit ihrem Sohn Norderstedt. Sie plante, als 62-Jährige nach ihrer Pensionierung wieder in ihre Heimat zu ziehen. 1988 besuchte sie Norderstedt erneut. Und kam nie wieder.

Auch Alfred Stern war ein fleißiger Mann, ein unbescholtener Bürger, einer, der die Menschen gern als Komiker unterhielt. Doch auch Alfred Stern war Jude. Im November 1935 vertrieben die NS-Schergen ihn mit seiner Ehefrau Elisabeth und den Töchtern Margot und Gerda aus seinem Haus am Rosenstieg 30 in Norderstedts Ortsteil Garstedt. Er hatte das Haus erst am 1. August 1935 von der Baugenossenschaft der Angestellten der Anstalt Langenhorn für 11.187 Reichsmark gekauft. Doch die Nationalsozialisten enteigneten den Krankenpfleger des Krankenhauses Ochsenzoll.

Die Stolperstele für Alfred Stern steht auf öffentlichem Grund an seinem ehemaligen Haus im Rosenstieg/Ecke Nelkenstieg, einer Parallelstraße zum Haus der Familie Strauss.

Alfred Stern gründete Norderstedter Amateur-Theater

Für Alfred Stern war der von den Nationalsozialisten erzwungene Verkauf des Hauses erst der Anfang eines langen, entwürdigenden Weges, den er als Jude, seine christliche Ehefrau Elisabeth und seine Töchter erleiden mussten. Am 11. November 1938, gleich zwei Tage nach der Reichspogromnacht, deportierten ihn die Machthaber ins KZ Sachsenhausen.

Doch sein Vorgesetzter, ein SS-Oberarzt, wollte auf den Krankenpfleger nicht verzichten und bewirkte Alfred Sterns Entlassung aus dem Konzen­trationslager. Krank und zerschlagen kehrte er zu seiner Familie zurück, die inzwischen in einem Mietshaus an der Ochsenzoller Straße lebte.

Doch auch Alfred Stern verschleppten die Nazis noch am 14. Februar 1945 ins KZ Theresienstadt. Das erneute Martyrium währte bis 9. Mai 1945, bis die russischen Soldaten auch das KZ Theresienstadt befreiten.

Alfred Stern kehrte zurück zu seiner Familie, die nur dadurch von den Nazis verschont blieb, weil seine Ehefrau Elisabeth Nichtjüdin war. Sie widerstand zudem wie Magda Strauss den Forderungen der NS-Schergen, sich von ihrem jüdischen Ehemann scheiden zu lassen und rettete ihm dadurch wahrscheinlich das Leben.

Doch Alfred Stern nahm nicht übel. Er sah das Leid der Menschen. Er, der so viel erdulden musste, wollte anderen Menschen Freude bringen und gründete 1947 mit Ehefrau und Freunden die Garstedter Volksbühne. Seit Norderstedts Stadt-Gründung 1970 heißt sie Norderstedter Amateur-Theater.

Aus ihr gingen das Stadtkabarett Die Thespisnarren und die niederdeutsche Bühne Tanks Theater hervor. Bei der Einweihung der Stele für Alfred Stern würdigte Stadtpräsidentin Kathrin Oehme ihn als unermüdlichen Mann, der den Menschen mit Theaterspielen Freude in den Alltag brachte.

Das KZ Wittmoor bestand drei Monate und gilt als Versuchs-KZ

Die vierte Stele stellten Chaverim und die Stadt am 9. November 2009 zur Erinnerung an die Pogromnacht 1938 vor dem Baustoffhandel Beckmann an der Segeberger Chaussee 310 auf. Aus Straßenbau-Gründen konnte sie nicht zeitgleich mit den anderen Stelen installiert werden. Sie ehrt die Häftlinge des KZs Wittmoor, denn auf dem heutigen Gelände des Baustoffhandels Beckmann stand die Torffabrik, von der aus die Gefangenen ins Wittmoor zum Torfstechen getrieben wurden. Für viele Gefangene war das KZ Wittmoor der Beginn einer Odyssee durch die Vernichtungslager des Hitler-Regimes. Wir berichteten in der Ausgabe vom 19. Mai in dieser Serie.

Quellen: Sieghard Bußenius in diversen Veröffentlichungen, Zeitzeugen-Berichte, unter anderem von Batia Amorai und Jonathan Kinarty, Israel.