Wir erzählen die Geschichte der Gedenkorte im Kreis Segeberg. Heute geht es um das frühe Konzentrationslager Kuhlen in Rickling.
Dieses Konzentrationslager wird immer wieder als „KZ der Kirche“ bezeichnet. Denn das Konzentrationslager Kuhlen wurde 1933 auf dem Gelände des Landesvereins für Innere Mission errichtet, der größten diakonischen Einrichtung der evangelischen Landeskirche in Schleswig-Holstein. Zwar war es nicht dem Landesverein und damit auch nicht der Kirche unterstellt, formell war es also kein „KZ der Kirche“. Rechtlich war es dem Landrat des Kreises Segeberg unterstellt. Faktisch aber war dieses frühe Konzentrationslager, das vom Juli bis zum Oktober 1933 existierte, mit dem Landesverein eng verbunden, der in Person von Diakon Franz Schuba unter anderem die Finanzen des Lagers verwalte. Auch der Lagerkommandant Othmar Walchensteiner war beim Landesverein beschäftigt.
Heute erinnert eine Buchenhecke an das einstige Lager. Sie markiert die Grundmauern der ehemaligen KZ-Baracke. In ihrem Inneren liegt ein Stein mit der Aufschrift: „Fundament der Baracke des Konzentrationslagers Kuhlen. Hier waren von Juli bis Oktober 1933 etwa 200 Männer, fast alle aus Schleswig-Holstein, gefangen. Sie gehörten zu den Ersten, die unter dem Unrechtssystem der Nationalsozialisten litten. Vergib uns unsere Schuld!“ Vor der Hecke steht ein weiterer Gedenkstein. Die ganze Gedenkstätte ist von der Straße ausgeschildert, die von der Anschlussstelle Daldorf an der Autobahn 21 nach Rickling führt. Vergessen ist dieses dunkle Kapitel der Geschichte in Kuhlen also nicht. Allerdings brauchte es nach dem Zweiten Weltkrieg 30 Jahre, bis der Landesverein für Innere Mission sich ihrer erstmals wieder öffentlich erinnerte.
Das KZ Kuhlen war wie das KZ Wittmoor eines der frühen Konzentrationslager
Wie aber konnte es überhaupt soweit kommen? Das KZ Kuhlen war wie auch das KZ Wittmoor in Glashütte eines der frühen Konzentrationslager, die mit den späteren Vernichtungslagern nicht zu verwechseln sind. Gleichwohl müssen die späteren Lager in der Tradition der frühen, wilden Lager gesehen werden. In ihnen wurden die Gegner der Nazis, meist Kommunisten und Sozialdemokraten, konzentriert. Hintergrund war, dass nach Hitlers Machtantritt im Januar 1933 und insbesondere nach dem bis heute nicht restlos aufgeklärten Reichstagsbrand Ende Februar des gleichen Jahres die Gegner reihenweise ins Gefängnis gesteckt wurden. Ohne Prozess und Verurteilung wurden sie in sogenannte Schutzhaft genommen. Die Gefängnisse waren schnell überfüllt, die Nazis suchten neue Lösungen. So entstanden die ersten Lager, die unter Leitung der SA, der Kommunen, aber auch der Gestapo standen.
Die Baracke war 38 Meter lang, zehn Meter breit und 2,50 Meter hoch
Das Ziel dieser frühen Konzentrationslager war die Umerziehung. Das „Segeberger Kreis- und Tageblatt“ schrieb am 15. Juli 1933 zur Einrichtung des Lagers in Kuhlen: „Das Konzentrationslager in Rickling bietet Raum für 60, dazu mäßige Kost und Kultivierungsarbeiten in Hülle und Fülle. Wir werden diese Saboteure des Aufbaues volkswirtschaftlich nützliche Arbeit verrichten lassen. Damit der Geist dabei nicht verkümmert, wird ein langjähriger Parteigenosse nationalsozialistisches Gedankengut gratis reichen.“ Auch die „Kaltenkirchener Zeitung“ oder der „Holsteinische Courier“ berichteten aus und über Kuhlen. Den aufmerksamen Zeitgenossen kann es also nicht entgangen sein, dass im Kreis Segeberg ein solches Lager errichtet wurde, in dem in der Folge Häftlinge aus ganz Schleswig-Holstein untergebracht werden sollten.
Waren diese zunächst auf dem Gutshof untergebracht, war dort bald zu wenig Platz, und die Häftlinge zogen in die bereits seit einiger Zeit bestehende Baracke Falkenried. Sie war 1931 von der „Evangelischen Freischar der Arbeit“ errichtet worden, einer Gruppe jugendlicher Arbeitsloser. Die Baracke war 38 Meter lang, zehn Meter breit und 2,50 Meter hoch, sodass Dreistockbetten Platz fanden. Damit konnten in vier Schlafsälen 80 bis 90 Männer gleichzeitig untergebracht werden, insgesamt waren über die vier Monate der Existenz des Lagers knapp 200 Männer inhaftiert.
Bereits für die Einrichtung des Lagers wurden Häftlinge herangezogen und unter anderem Löcher für Pfähle für eine bessere Umzäunung gegraben. Dazu mussten sie antreten, wegtreten und exerzieren sowie Laufübungen in Schritt und Laufschritt verrichten. „Bis Euch das Wasser im Arsche kocht“, sollen die Wärter laut der Aussage von Häftling Albert Stange gesagt haben. Neben den Gehorsamsübungen mussten die Gefangenen elf Stunden täglich für die Innere Mission arbeiten. Harald Jenner, der die Geschichte des Lagers aufgearbeitet hat, kommt auf etwa 85.000 Arbeitsstunden, die die Inhaftierten geleistet haben. Einen Lohn bekamen sie nicht, vielmehr mussten sie für Kost und Logis 1,50 Reichsmark pro Tag selbst zahlen.
Lagerkommandant Walchensteiner stammte aus Österreich und war bereits 1925 der NSDAP beigetreten. Ende der 1920er-Jahre entschied er sich für eine Diakonen-Ausbildung im Rauhen Haus in Hamburg, einen Abschluss machte er aber nicht. Ungeachtet dessen holte der Direktor des Landesvereins, Oskar Epha, Walchensteiner für den politischen Unterricht nach Rickling. Epha selbst war schon vor der „Machtergreifung“ Mitglied der Reiter-SA. Auch der Landesverein gehörte nach dem Januar 1933 zu den NS-treuen Deutschen Christen.
Der Häftling Reinhold Jürgensen wurde von SS-Männern erschlagen
Für seine neue Aufgabe hielten sowohl der Direktor als auch die Kreisleitung der NSDAP Walchensteiner, der zudem SS-Mitglied war, für geeignet. Epha meinte, dass bei ihm als früherem Diakonenschüler „das notwendige Verständnis für die besonderen Belange einer kirchlichen Einrichtung vorausgesetzt werden konnte“. Bereits 1935 wurde er in Rickling wieder entlassen, da er einer „kirchenfeindlichen Einrichtung“ angehörte, der sogenannten Deutschen Glaubensbewegung. Walchensteiner fiel 1943 in der Ukraine, sodass nach dem Krieg sich nur sein Stellvertreter vor Gericht verantworten musste und zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.
Auch über einige der Häftlinge ist heute Näheres bekannt. So war der KPD-Reichstagsabgeordnete Reinhold Jürgensen aus Elmshorn inhaftiert, der ein Jahr später im KZ Fuhlsbüttel von SS-Männern erschlagen wurde. Aus dem Kreis Segeberg stammte zum Beispiel Otto Gösch aus Kaltenkirchen, der als Kraftfahrer tätig war und mündlich und durch das Verteilen von Flugblättern für die KPD geworben hatte. Noch bei der Kommunalwahl am 12. März 1933 hatte er es gewagt, gemeinsam mit Sozialdemokraten auf der Kaltenkirchener Arbeiterliste zu kandidieren. Neben seinem Aufenthalt in Rickling saß Gösch noch mehrfach im Gefängnis oder im Konzentrationslager, wurde 1941 in die Wehrmacht eingezogen und starb 1943 in Altona infolge eines Lungenleidens.
Ein weiterer ehemaliger Häftling, der bereits erwähnte Albert Stange, wurde nach dem Krieg bekannt, weil er von 1945 bis 1995 ununterbrochen Bürgermeister seines neuen Heimatdorfes Agethorst bei Itzehoe war. Warum er inhaftiert wurde, konnte er sich auch viele Jahre nach dem Krieg nicht recht erklären. Möglicherweise hing es damit zusammen, dass er sich in Fehrenbötel (heute zu Rickling gehörig), wo er vor seiner Verhaftung für die Spar- und Darlehnskasse arbeitete, kritisch gegenüber den Nationalsozialisten geäußert hatte. Möglicherweise kam er aber auch in das frühe KZ, weil man ihn für einen Juden hielt. Stange war bereits im März 1933 vom Ricklinger Polizisten Trippler nach Segeberg zum Verhör gebracht worden, wo er 14 Tage einsaß. Dann wurde er mit etwa 15 anderen Häftlingen von bewaffneten SA-Männern über Negernbötel und Daldorf nach Kuhlen getrieben. Das Lager bestand nur kurze Zeit. Am 13. Oktober 1933 erging per Funkspruch die Order vom Reichsinnenminister an den zuständigen Regierungspräsidenten, das Lager aufzulösen. Dieser wiederum ordnete gegenüber Segebergs Landrat Waldemar von Mohl die Schließung an. Die noch im Lager befindlichen Häftlinge wurden in die Emsland-Lager bei Papenburg gebracht, die Kosten für die Eisenbahnfahrt bis nach Altona mussten sie wiederum selbst bezahlen. Die Wachleute von SA und SS in Kuhlen erhielten vom Landrat eine „Anerkennung für die Erfolgreiche Durchführung der ihnen gestellten, sicher nicht leichten Aufgabe“. In die KZ-Baracke zogen nun Alkoholiker ein, die zunächst ebenfalls von Walchensteiner betreut wurden.
Nach dem Krieg wurde die Existenz des KZ lange Zeit geleugnet
Nach 1933 wurde die Existenz des Lagers in Rickling und Umgebung verdrängt, was sich nach dem Krieg fortsetzte. „Dass Rickling Sitz eines KZ gewesen sei, wurde von vielen Ricklingern lange Zeit bestritten“, schreibt Diakon Peter Sutter in seinem Buch über die Zeit des Nationalsozialismus in Rickling, das 1986 erschien. Es habe entrüstete Bemerkungen gegeben, „wer so etwas behaupte, könne nur als ,Nestbeschmutzer’ bezeichnet werden.“ Sutter kommt mit seinem Buch der Verdienst zu, die Geschichte des Lagers als Erster aufgearbeitet zu haben. Zwar war es schon in der Jubiläums-Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Ricklinger Anstalten im Jahr 1975 erwähnt worden, aber damals noch als KZ der NSDAP.
Sutter, der als Pressesprecher der Inneren Mission arbeitete, fand in den Akten des Landesvereins einen unscheinbaren Schnellhefter mit Aufzeichnungen. Zeitzeugengespräche und weiteres Aktenstudium folgten, sodass das Buch „Der sinkende Petrus – Rickling 1933–1945“ im Eigenverlag erscheinen konnte. Im Jahr 1990 entstand schließlich die heutige Gedenkstätte, mitinitiiert durch den damaligen Bischof Karl Ludwig Kohlwage. Ein Duplikat der Gedenktafel auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers ist seit 1995 auch im Eingangsbereich des größten Veranstaltungsraums des Landesvereins in Rickling zu sehen.