Norderstedt. Hilde Lübke verlor im Zweiten Weltkrieg alles und baute sich im Westen ein neues Leben auf. Am Freitag wird sie 95 Jahre alt.
Sie hat Hitler erlebt, den Zweiten Weltkrieg, die Sowjets und die Polen, Flucht und Vertreibung, Neu-Anfang und dass sie dort, wo sie nach der Vertreibung eine Heimat finden wollte, nicht gern gesehen war. Hilde Lübke wird an diesem Freitag 95 Jahre alt. Sie wurde aus ihrer Heimat vertrieben. Schon ihr Dialekt verrät heute noch, woher sie kommt, aus Pommern.
Hilde Lübke blickt auf ein Leben in zwei Jahrhunderten zurück, ein Leben, das sie immer gemeistert hat, auch wenn es oft so aussah, als sei alles zu Ende, vor allem in ihrer Kindheit und Jugend, „als erst die Russen kamen und dann die Polen“.
Viele Tote hat sie gesehen, Menschen, die erst von den Russen verschleppt und dann erschossen oder erschlagen wurden. Aus Rache für die Massaker der Deutschen an den Russen. Doch Hilde Lübke, damals hieß sie Albrecht, wollte weiterleben, das Schöne erleben und die Freude, wollte heiraten und eine Familie gründen. Dieser Wille hielt sie am Leben. Geboren ist sie 1920 in Peest, direkt an der Ostsee, zwischen Stolp und Stolpmünde im Kreis Schlawe, einem Dorf mit rund 900 Einwohnern zu ihrer Zeit.
Ihr Großvater hatte einen Gasthof, den Spitzkrug – und dort hat sich das Leben abgespielt, damals, als Hilde Lübke noch ein Kind war und Hochzeiten tagelang gefeiert wurden, von morgens früh bis spät in die Nacht und am nächsten Morgen gleich weiter. Ihr Vater war Schmied mit eigener Schmiede, die Familie wurde immer größer. „Wir haben immer nur gebaut und das Anwesen vergrößert“, sagt sie stolz.
Graf und Gräfin von Krokow lobten das flinke Mädel, sie sollte bei der Gräfin in Stellung gehen, als Dienstmädchen. Doch daraus wurde nichts. „Das Schloss von Krokow hatte einen unterirdischen Gang bis zum Kanal, durch den ist der Graf vor seinen Feinden geflohen“, erinnert sie sich an Erzählungen ihres Großvaters, der mit dem Grafen befreundet war. Erinnerungen aus einer vergangenen Zeit. Auch im Schloss derer von Zitzewitz war Hilde Lübke als junges Mädchen. „Das hatte mehr als 100 Zimmer“, sagt sie bewundernd. Zuckerrüben hat sie dort in der Schlossküche eingekocht und nachts in der Scheunendiele geschlafen. Sie hat mit ihrer Schwester in der Ostsee gebadet und bandelte bei einem Tanzabend mit Erich Walther an, der ihr Verlobter wurde, aber nicht von der Front zurückkam. Sie war wieder allein.
„Ich musste am Tag dreimal 30 Kühe melken“
Dann die Katastrophe. Der Zweite Weltkrieg war verloren, und am 8. März 1945 besetzte die Rote Armee Peest. Die Dorfbewohner saßen in der Falle, denn eine Flucht war nicht mehr möglich. Peest lag im Danziger Kessel. Ohnehin war das Leben durch die Flucht ost- und westpreußischer Familien nach Pommern bereits dramatisch geworden, und einige Bürger verschleppten sogar die eigenen Landsleute.
„Die Russen haben uns alles genommen“, sagt Hilde Lübke. Sie hatte sich vor den Sowjet-Soldaten in der Speisekammer versteckt, wurde entdeckt, kam aber glimpflich davon. Die Plünderungen waren immens, und sie und ihre Familie mussten hungern.
„Dann sagte der Bürgermeister – das war im Sommer 1945 Wilhelm Harder unter russischem Kommando –, wir sollten uns alle auf dem Dorfplatz versammeln, um zur Arbeit auf den Gütern eingeteilt zu werden“, erinnert sie sich. „Doch ein alter Russe zerrte mich aus dem Menschenhaufen heraus, und ich konnte fliehen“, sagt sie. Die anderen Menschen wurden nach Stolp getrieben und verschleppt. Sie hat sie nie wieder gesehen.
„Die Russen hatten alle Herrlichkeiten und die Felder, uns wurde alles geklaut. Ich musste am Tag dreimal 30 Kühe melken, ich musste sie waschen, doch immer wieder kam ein Russe und hat die Kühe beschmutzt, und ich musste weiter putzen und mit weißen Tischtüchern den Boden feudeln“, sagt sie. Immer hatte sie Hunger. Nachts, wenn die Russen schliefen, hat sie Roggen geklaut, um zu backen.
Dann kamen die Polen. Nachts. Im Oktober 1945. Hilde Lübke war eine junge Frau von 25 Jahren. Wieder wurden Menschen verschleppt. Dann hieß es, alle Deutschen müssen raus, raus aus Pommern, raus aus ihrer Heimat. Pommern gehört jetzt zu Polen.
„Am 4. Januar 1946 sind wir aufgebrochen, 26 Menschen mit einem Kutschwagen, nur mit Handgepäck, zu Fuß“, sagt Hilde Lübke. 23 Kilometer dauerte die erste Etappe, dann bestiegen sie einen Zug, ohne zu wissen, wohin er fuhr. Wenn er denn fuhr. Erst nach Stettin. Dann nach Grünberg in Schlesien, quer durch Deutschland über Leipzig bis Duderstadt. Das dauerte Tage über Tage. „Wir wollten nur noch nach Westen, es war eine Völkerwanderung gr0ßen Ausmaßes“, erzählt Hilde Lübke aufgeregt.
Der nächste Schock: Sie waren nicht willkommen. Weder in Leipzig. Noch in Duderstadt. Und schon gar nicht in Elmshorn, ihre vorletzte Station. Auch die Lebensweise in Schleswig-Holstein war der Frau aus Pommern fremd: „Die Bauern lebten mit ihrem Vieh unter einem Dach, das gab es bei uns in Pommern nicht, das Vieh gehörte ins Stallgebäude, die Menschen in ihr Wohnhaus.“
1951 lernte sie in Elmshorn Erich Lübke kennen. „Es war gerade Maskerade, ich habe immer alles selbst genäht, ich kann sehr gut nähen, und ich habe immer Preise gewonnen“, erinnert sie sich. Sie habe erst einmal in den Saal geguckt, was denn so an Mannsbildern vorhanden war – und wer gut tanzen konnte. Erich Lübke konnte. „Den habe ich zum Schwitzen gebracht“, erzählt Hilde Lübke, und ihre Augen blitzen. Wenig später ging es aufs Standesamt.
Das Paar pachtete einen Schrebergarten
Sie hat Arbeit angenommen, war bei Karl Wagener in Stellung. Sie wollte raus aus der Enge, weg von der Not, den Almosen. Sie arbeitete bei den Bauern, nähte Leder in einer Schuhfabrik und kochte bei Familien-Festen. „Ich habe immer die pommersche Küche hochgehalten, alle mochten das“, sagt sie und tischt frisch gebratene Heringe auf.
Nach der Hochzeit pachtete das junge Paar einen Schrebergarten. Sie wollten sich selbst versorgen. 1952 konnten die Lübkes, mittlerweile war Tochter Hannelore geboren, einen Bauplatz in Harksheide, heute Norderstedt, kaufen. 1953 feierten sie das Richtfest. Seitdem lebt sie am Buckhörner Moor. „Einmal gab es Streit mit der Gemeindeverwaltung, weil wir anders bauen wollten, als das Amt es uns erlaubte, aber das war die reine Schikane“, sagt sie.
Unermüdlich hat sie nach vorn gestrebt. Erst wurden die Ställe und die Waschküche gebaut, in denen sie und ihr Ehemann wohnten, während ihre Schwiegermutter in der Küche schlief. „Bei uns fanden auch immer die Treffen der vertriebenen Pommern statt“, sagt Hilde Lübke. Ihre 87-jährige Schwester Gertrud lebt in Elmshorn, ihr 88-jähriger Bruder Johann Albrecht in Bullenkuhlen bei Barmstedt.
Hilde Lübke ist mit ihren 95 Jahren gern unterwegs, nimmt an Tagesreisen per Bus teil, beispielsweise mit der Paul-Gerhardt-Kirche, in deren Gemeinde sie lebt. Und Pommern? Gleich nach dem Fall der Mauer war sie wieder dort, in Peest. Vieles war noch wie einst. Aber die Menschen, ihre Menschen, die waren nicht mehr da.