Henstedt-Ulzburg. Morteza Njafe und seine Familie haben in Henstedt-Ulzburg neue Heimat gefunden. Der 30-Jährige schildert seine unglaubliche Flucht.
Morteza Njafe, 30, ist müde. Ein langer Tag in fremder Umgebung liegt hinter ihm und seiner Familie. Doch er möchte unbedingt noch seine Geschichte erzählen. Die Geschichte einer Odyssee mit Bahn, Bus, zu Fuß und in einem überfüllten Schlauchboot. Erinnerungen an eine Flucht aus Herat im Westen Afghanistans bis Henstedt-Ulzburg.
Seit etwa einer Woche wohnen Morteza Njafe und Ehefrau Nasrin, 25, mit ihren Kindern Amir Ali, 4, und Ghazal, 7, in einer Zweizimmer-Wohnung im ersten Stock eines Zweifamilienhauses in Ulzburg-Süd. „Es wäre schön, wenn wir hier ein neues Zuhause finden könnten“, sagt Morteza, ein gelernter Maurer, in beinahe fließendem Englisch. Die Familie hat einen Asylantrag gestellt.
Unten im Haus, das der Gemeinde gehört, wohnt noch eine Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan mit vier Kindern. Der Vater, freundlich, zurückhaltend und ein wenig misstrauisch, möchte seine Geschichte (noch) nicht erzählen.
Wir sitzen im Kinderzimmer: zwei Betten, 1,50 Meter hohe Regale mit Plüschtieren, Spielzeug und Kinderbüchern für Amir Ali und Ghazal. Alles von hilfsbereiten Bürgern gespendet, von der Gemeinde und vom Willkommensteam Henstedt-Ulzburg bereitgestellt. Nasrin Najafe hat Tee gekocht und kleine Schälchen mit Zuckerstücken und Karamellbonbons auf den Tisch gestellt.
Morteza hat einen Dolmetscher mitgebracht, der Deutsch spricht: Martin Nuri, ebenfalls in Herat geboren und mittlerweile zum christlichen Glauben konvertiert. Nach seiner Flucht lebte er in der Schweiz, seit zwei Jahren wohnt er in Henstedt-Ulzburg. Viele Menschen kennen ihn. Martin versichert, dass er in Kürze einen positiven Asylbescheid erhalten werde und dann endlich einen Job bekommt. Bisher lebt er von Hartz IV.
Von 2005 bis 2011 hat Morteza in Herat (410.000 Einwohner, drittgrößte Stadt Afghanistans) als Verwaltungsassistent bei World Vision Afghanistan, einem internationalen Kinderhelfswerk, gearbeitet. Er kümmerte sich um Reisevorbereitungen, prüfte Reisepässe und ging für die Mitarbeiter der Organisation einkaufen. „Mein Chef war ein Deutscher“, erinnert er sich.
Morteza schaut mich an. Vom linken Ohr bis zum Kinn und weiter den Hals hinab führt eine lange Narbe. Sie sieht aus wie ein Schmiss. Er sagt: „Das waren die Taliban. Dreimal wurde ich in Briefen bedroht. Sie kündigten an, meine Familie und mich töten zu wollen, wenn ich weiter für World Vision arbeiten würde.“ Sie machten ihre Ankündigung wahr, ermordeten einen seiner vier Brüder und richteten Morteza bei einem Messerüberfall schlimm zu. Die Folgen sieht man heute noch.
„Als ich die Augen wieder aufmachte, fand ich mich in einem Krankenhaus im Iran wieder“, so Morteza. Familienmitglieder hatten ihn über die Grenze gebracht, weil das Gesundheitssystem in Afghanistan desolat ist. Der Arzt sagte, dass er an seiner Verletzung sterben würde, wenn er ihn nicht regelmäßig behandeln könne. Das war der Moment, in dem sich der gelernte Maurer schwor: Nie wieder zurück nach Afghanistan.
Morteza, endlich gesundet, holte seine Familie nach, ging mit Frau und Kindern zu Fuß in die Türkei. Er schlug sich als Hilfsarbeiter in Restaurants durch. Im Sommer 2015 lernte er einen Schlepper kennen. „Ich bringe euch nach Griechenland“, versprach dieser und nahm Morteza das letzte Geld ab. Eines Nachts stiegen sie in ein mit 65 Menschen völlig überfülltes Schlauchboot. „Sechs Stunden dauerte die Überfahrt. Ich dachte, dass wir alle sterben müssten“, sagt Morteza. Sie landeten auf einer Insel, an deren Namen er sich nicht erinnern kann.
Irgendwann brachte sie ein Schiff nach Athen. Dann gingen sie, den kleinen Ali im Rucksack auf dem Rücken, zu Fuß nach Makedonien. Sie übernachteten in Wäldern, wurden mehrfach festgenommen, in Abschiebelager gesteckt. Doch es ging immer weiter: Serbien, Ungarn, Österreich, Bayern. „Deutschland war unser Ziel“, sagt Morteza. Weiter in Richtung Norden. Mit dem Zug nach Hamburg, über das (überfüllte) zentrale Erstaufnahmelager in Neumünster und eine Kaserne in Seeth/Nordfriesland nach Bad Segeberg. Im Kreishaus wurden die Papiere akualisiert und die Zuweisungen an den künftigen Wohnort unterschrieben. Dann ging die Reise weiter nach Henstedt-Ulzburg. Dort wartete im Rathaus das Willkommensteam auf sie. Darunter Werner und Marina Niessner, ihre Betreuer in den kommenden Wochen und Monaten.
Erhalten die Neuankömmlinge Asyl oder werden sie eines Tages wieder abgeschoben? Die Entscheidung darüber kann länger als ein halbes Jahr dauern. Für Morteza Najafe und seine Familie gibt es nur eine Antwort: Nie wieder zurück nach Afghanistan!