Bad Segeberg. Vo 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Wir erzählen die Geschichte der Gedenkorte für die Opfer. Heute: Bad Segeberg.

Eine Lücke klafft in der Lübecker Straße in Bad Segeberg. Haus Nummer zwei gibt es nicht mehr, die alte Synagoge ist verschwunden. Knapp 100 Jahre betete hier in der Lübecker Straße die kleine jüdische Gemeinde Segebergs. Die Synagoge wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschändet und verwüstet, der Abort im Garten in Brand gesetzt. Die Synagoge selbst blieb stehen, angrenzende Häuser hätten bei einem Brand zerstört werden können. Die meisten Juden Bad Segebergs wurden später in Konzentrationslagern umgebracht. Nur einer von ihnen, Jean Labowsky, überlebte den Holocaust in Bad Segeberg und wurde der erste Stadtdirektor nach dem Krieg. Nach ihm ist seit 2007 der Weg benannt, der zur neuen Synagoge an der Kurhausstraße unweit des alten jüdischen Friedhofs der Stadt führt. Beide Orte gehören zu den vielen Erinnerungsorten in der Stadt, die an die Geschichte der Juden und die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer zahlreichen Unterstützer erinnern.

Die neue Synagoge zeigt, dass es den Nazis nicht gelungen ist, die Juden endgültig aus Bad Segeberg zu vertreiben. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts erhielten die ersten Juden in Bad Segeberg das Bürgerrecht, sie mussten dafür allerdings einen diskriminierenden Bürgereid leisten. Erst 1863 wurden sie rechtlich den Christen gleichgestellt, diskriminiert wurden sie hingegen weiterhin. So fiel Johannes Friedrich Ludwig Plambeck beispielsweise in seiner Amtszeit als Bürgermeister von 1878 bis 1902 durch seinen Antisemitismus auf, und noch in den 1920er-Jahren versuchte er, die Anstellung eines ausländischen Kantors in der Gemeinde zu unterbinden.

Es entwickelte sich ein reges Gemeindeleben

Trotz schwieriger Umstände hatte sich vor Beginn der NS-Diktatur ein reges Gemeindeleben in Bad Segeberg entwickelt. Friedrich Gleiss, der sich eingehend mit der Geschichte der Juden in seiner Heimatstadt beschäftigt hat, fasst es so zusammen: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir in Segeberg eine stabile, geachtete und aktive jüdische Gemeinde vor, die von der antisemitischen NS-Bewegung überrascht wurde.“ Wie vorgeschrieben wurden die Kinder in jüdischer Religion unterrichtet, eine Sterbegilde sorgte für die Unterhaltung des Friedhofs. Der Mittelpunkt des jüdischen Gemeindelebens war die Segeberger Synagoge mit einem Betsaal und einer Wohnung für den Religionslehrer.

Eine der Tora-Rollen der alten Synagoge befindet sich heute wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde. Weitere jüdische Einrichtungen in der Stadt waren die jüdischen Kindererholungs- und Lehrlingsheime an der Bismarckallee und mehrere jüdische Pensionen, in denen auch koscher gekocht wurde, und die vor allem von Kurgästen genutzt wurden.

Juden wie Ludwig Levy waren in der ganzen Stadt geachtet. Levy war 50 Jahre Präses der jüdischen Gemeinde, er war Mitglied des Stadtrats, Vorsitzender des Männergesangvereins und zudem als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs Träger des Eisernen Kreuzes. Im Jahr 1930 lebten immerhin 49 Juden in der Stadt Bad Segeberg und dem noch eigenständigen Klein Niendorf. Sechs Jahre später, im Jahr seines Todes 1936, schreibt Ludwig Levy: „Die Gemeinde besteht nur noch aus drei Familien.“

Antisemitismus schon vor den Nazis spürbar

Schon vor der Machtübernahme durch die Nazis war der Antisemitismus in Schleswig-Holstein und in Bad Segeberg deutlich spürbar, bereits 1930 hatte die NSDAP in der Stadt fast so viele Stimmen wie die SPD bei der Reichstagswahl erhalten, 1932 machte eine deutliche Mehrheit der Segeberger das Kreuz bei den Nazis. Als die NSDAP 1929 zu ihrer ersten öffentlichen Versammlung in der Stadt einlud, hieß es auf dem Plakat eindeutig: „Juden Zutritt verboten!“

Was vor 1933 wie hier scheinbar harmlos mit Worten begann, sollte dann bis 1945 einer großen Mehrheit der Segeberger Juden den Tod bringen. Der Antisemitismus hatte sich zur Vernichtungsideologie entwickelt.

Damit das heute nicht in Vergessenheit gerät, wird auch in Bad Segeberg den Opfern gedacht. Wer aufmerksam durch die Straßen der Kreisstadt spaziert, der findet derzeit zehn Stolpersteine. Sie gehören zu dem bundesweiten Projekt des Künstlers Günter Demning aus Köln, der bislang mehr als 50.000 von ihnen verlegt hat. Sie liegen meist vor den Wohnorten der späteren Opfer des Nationalsozialismus. In Bad Segeberg zum Beispiel vor der Lübecker Straße 12. Hier sind es gleich vier Steine, die an Moritz Steinhof, seine Frau und die beiden ebenfalls ermordeten Kinder erinnern. Steinhof lebte seit 1901 in Segeberg und verließ die Stadt mit seiner Familie am 1. August 1933.

Boykott setzte „pünktlich“ ein

Vorausgegangen war am 1. April der erste groß angelegte Boykott seines und der anderen jüdischen Geschäfte der Stadt. Unter dem Motto „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden“ hatte die neue Regierung dazu aufgerufen, und das Segeberger Kreis- und Tageblatt vermeldete noch am selben Tag: „Der Boykott hat in Bad Segeberg pünktlich eingesetzt. Es ist selbstverständlich, dass sich die Aktion hier ruhig und diszipliniert abwickelt. Der vorläufig eintägige Abwehrkampf findet heute Abend mit einer Kundgebung auf dem Marktplatz seine Krönung.“ Was genau bei Steinhof passierte, der Schuhe und Kleidung verkaufte, lässt sich nicht mehr ermitteln.

Wie einschneidend das Erlebnis war, zeigen die weiteren Schritte bis zur Flucht aus Bad Segeberg. Steinhof annoncierte nach den Ereignissen vom April 1933 mehrfach in der Zeitung, dass er „Fortzugshalber“ alle Waren „billig“ oder mit Rabatt verkaufe, am 18. Juli heißt es dann in der letzten Anzeige: „Verkaufe den Rest meiner Waren zu jedem annehmbaren Preise.“ Steinhof kehrte in sein Geburtsland Ungarn zurück. Er, seine Frau Dina und zwei der fünf Kinder starben in KZs in Polen. Die Stolpersteine auf dem Fußweg gegenüber dem Segeberger Rathaus bewahren ihr Andenken.

Die meisten Juden verließen die Stadt

Auch die meisten anderen Juden verließen die Kleinstadt nach und nach. Wer sich nicht ins Ausland absetzen konnte, ging meist nach Hamburg. Die Juden erhofften sich durch die Anonymität der Großstadt mehr Sicherheit. Vergebens. Denn auch wenn aus Bad Segeberg selbst niemand deportiert wurde, wurden allein im Spätsommer 1942 neun ehemalige Segeberger aus Hamburg deportiert und später umgebracht. Unter ihnen war auch Leopold Bornstein, der letzte Religionslehrer der jüdischen Gemeinde, an den ein Stolperstein an der Lübecker Straße 2 erinnert. Bornstein floh nach Riga, wo er 1938 ermordet wurde.

Eine der Familien, die zunächst blieb, waren die Inhaber des Warenhauses Baruch, das kaum Umsatzeinbußen zu verzeichnen hatte. Nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war damit Schluss. Eine SA-Standarte hatte sich in der Nacht von Kaltenkirchen nach Bad Segeberg begeben, wo sie das Kaufhaus an der Kirchstraße plünderten.

Wie erwähnt wurde auch die Synagoge geschändet. Sie verfiel und diente den Nazis sogar als Lagerraum. Ihre Geschäftsstelle lag direkt gegenüber. Nach dem Krieg wurde das nun baufällige Haus mit Zustimmung der jüdischen Kultusgemeinde in Hamburg 1962 abgerissen, heute sind die Reste des Brunnens für das Ritualbad, die Mikwe, freigelegt. Neben ihr erinnert eine Gedenktafel an die alte Synagoge. Mittlerweile ist es schon die zweite ihrer Art. Die erste wurde zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht im März 1989 aufgestellt.

Neben der Tafel und dem Stolperstein für den letzten Religionslehrer wird hier auch an alle Segeberger Opfer erinnert. Fünf Tafeln an einer Plexiglaswand benennen seit dem 9. November 2000 all diejenigen Segeberger Juden, die von den Nazis ermordet wurden. Die klaffende Wunde in der Segeberger Stadtgeschichte wird durch dieses Erinnern, die Stolpersteine und die verschiedenen weiteren Gedenktafeln in der Stadt zumindest etwas greifbarer. Verheilen wird sie nie