70 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Der Todesmarsch der Häftlinge des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel nach Kiel. Drei Opfer fanden in Kaltenkirchen die letzte Ruhe.
Wer von der Straße Heidland kommend direkt hinter dem Eingang des Friedhofs Kaltenkirchen rechts abbiegt, der steht unvermittelt vor einer Gedenkstätte. Einige Opfer des Nationalsozialismus sind hier begraben, sieben von ihnen wurden im KZ Kaltenkirchen umgebracht und unter bis heute ungeklärten Umständen nicht wie sonst üblich in Moorkaten sondern auf dem Friedhof bestattet. Sie liegen neben zwölf sowjetischen und sieben jugoslawischen Kriegsgefangenen, die 1941 und 1945 umgekommen sind. Drei weitere Gräber sollen uns heute interessieren. Sie werden wie die anderen von einem schlichten Stein geschmückt und erinnern an drei Insassen aus dem KZ Fuhlsbüttel, dem sogenannten Kolafu.
Die drei hier Begrabenen mussten mit knapp 200 Leidensgenossen – politische Häftlinge, Kriegsgefangene und andere Verfolgte des NS-Regimes – kurz vor Ende des Krieges aus Hamburg nach Kiel marschieren und sie wurden vor und in Kaltenkirchen ermordet. Mittlerweile erinnert noch ein Stein mit Inschrift an den Evakuierungsmarsch vom April 1945, auf dem die drei gewaltsam getötet wurden. Weitere Erinnerungsorte für den Marsch gibt es derzeit zumindest im Kreis Segeberg nicht. Der Marsch selbst wurde wie viele andere kurz vor Ende des Krieges mit dem Ziel gestartet, dass kein KZ-Häftling lebend in die Hände des Feindes gelangen sollte.
Die Häftlinge waren barfuß, verletzt und gaben ein erbärmliches Bild ab
Aus den etwa 800 Gefangenen des Kolafu wurden mehrere Gruppen gebildet, ein Teil soll entlassen worden sein, etwa 70 politische Häftlinge wurden in Neuengamme umgebracht und der dritte Teil wurde nach Kiel-Hassee ins sogenannte „Arbeitserziehungslager Nordmark“ gebracht. Von ihnen musste sich wiederum ein Teil in mehreren Gruppen auf den Fußweg machen. Der andere Teil wurde durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Kiel verschifft. Die Marschierer, die ab dem 12. April 1945 drei Tage unterwegs waren, müssen ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Sie zogen von Hamburg aus über die heutige Ulzburger Straße – damals die Grenze zwischen den Landkreisen Pinneberg im Westen und Stormarn im Osten – in Richtung Norden. Durch Ulzburg und Kaltenkirchen wurden sie dann weiter nach Bad Bramstedt, Neumünster und Bordesholm getrieben.
Minna Lieberam, eine ehemalige Inhaftierte des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel, passierte den Trupp auf einem Wagen und beschrieb ihn mit den folgenden Worten: „Die Menschen waren in furchtbarem Zustande. Die meisten waren barfuß, und ihre Füße waren mit eiternden Wunden bedeckt. In Kiel-Hassee haben mir Kameraden erzählt, dass viele Menschen auf dem Transport erschossen wurden.“ Den Menschen an der Strecke dürfte das nicht verborgen geblieben sein, in Kaltenkirchen sollen insbesondere die durchziehenden Frauen einen bleibenden Eindruck bei den Zeitgenossen hinterlassen haben.
Nachgewiesen ist die erste Erschießung eines Gefangenen in Kisdorf-Feld etwa auf Höhe der heutigen Kreuzung zum Gewerbegebiet Ulzburg am Gehöft von Otto Braasch, wo heute eine Kfz-Werkstatt beheimatet ist. Ob am ersten Tag bereits vorher Häftlinge umkamen, ist laut Uwe Fentsahm unklar. Er hat sich intensiv mit dem Evakuierungsmarsch befasst und einen ausführlichen Aufsatz zum Thema geschrieben. Laut der vorliegenden Quellen wurde „bei dem Gehöft des Otto Braasch“ ein Gefangener – der Österreicher Josef Tichy – erschossen. Der Alvesloher Historiker Gerhard Hoch konnte ermitteln, dass die Leiche laut Augenzeugenberichten von Ulzburger Nazis vergraben wurde. „Die Sache kam schon im Juli ans Licht. Der stellvertretende Gemeindevorsteher von Kisdorf musste die Leiche ausgraben“, schreibt Hoch. Tichy fand auf dem Friedhof Kaltenkirchen seine letzte Ruhestätte.
Josef Beck und Hugo Kockendörfer waren erschöpft – ihr Todesurteil
Die beiden weiteren Toten, die in Kaltenkirchen begraben liegen, starben am 13. April. Die Nacht hatten sie in der Schützenstraße in der Scheune des Bauern Bernhard Möller und in der Durchfahrt sowie dem Stall des damaligen Gasthofs Hüttmann verbracht. „Am nächsten Morgen konnten zwei der Häftlinge nicht mehr aufstehen“, berichtet Kurt Ewald, der ebenfalls zu den Häftlingen gehörte. Ein Wachmann blieb zurück und hat sie offenkundig erschossen. Später wurde er von den Briten angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die beiden Toten waren Josef Beck aus der Nähe von Frankfurt und Hugo Kockendörfer aus Rostock. Ein weiterer Mord ereignete sich nachweislich vor Bad Bramstedt auf der Höhe Bissenmoor, für weitere gibt es Hinweise aber keine endgültigen Beweise. Auch auf der weiteren Strecke wurden Häftlinge ermordet, der Leiter des Marsches, der SS-Mann Wilhelm Hennings sprach bei seiner Vernehmung vor Gericht später von 189 oder 185 Überlebenden, er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Für die Häftlinge, die in Kiel ankamen, war die Tortur noch nicht beendet, in den letzten drei Kriegswochen starben im Lager insgesamt noch etwa 100 Insassen.
In Kaltenkirchen wollte man lange nichts wissen von dem Thema
In Kaltenkirchen verblasste die Erinnerung an dieses kurze Kapitel der NS-Geschichte, aber auch das KZ wurde lange aus dem Bewusstsein verdrängt. Die schlichten Gräber auf dem Friedhof gelangten erst in den 1970er Jahren – auch durch erste Nachforschungen von Gerhard Hoch – wieder in das Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit. So legten beispielsweise 1975 zahlreiche vor allem junge Menschen Blumen auf die unscheinbaren Grabsteine der Opfer der NS-Gewalt. Die Initiative hatte der damalige Pastor Dr. Scholz ergriffen. Erst Anfang der 1990er Jahre wurde dann die ganze Gedenkstätte auf dem Friedhof umgestaltet, die Friedensgruppe Kaltenkirchen hatte dies gemeinsam mit dem Friedhofsausschuss der Kirchengemeinde vorangetrieben. So ganz einfach sei es nicht gewesen, erinnert sich Gerhard Hoch, der damals mit dabei war. Auf den Gedenkstein am Ende des Feldes sollte ein Teil des Vaterunser stehen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Damit sei er nicht einverstanden gewesen, so Hoch, der ein Wort aus der Offenbarung des Johannes parat hatte, ein tröstliches, wie er findet. Und so steht heute folgender Satz auf dem Stein, der für alle an dieser Stelle begrabenen NS-Opfer gesetzt wurde: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
Stelen und Gedenktafeln fehlen auf der Marschroute nach Kiel
Uwe Fentsahm wünscht sich eine andere Form der Erinnerung. An den Orten des Marsches, an denen nachweislich Häftlinge ermordet wurden, sollten seiner Ansicht nach Stelen errichtet werden, wie dies insbesondere in der DDR an Todesmarsch-Strecken Praxis war. Aber auch für den Marsch vom Auschwitzer Außenlager Fürstengrube nach Sarau ganz im Nordosten des Kreises Segeberg gibt es Stelen, die an das Leid der Marschierer erinnern – wir werden in einer weiteren Folge unserer Serie noch darauf zu sprechen kommen. Für den Marsch von Fuhlsbüttel bleibt es derzeit – zumindest im Kreis Segeberg – bei den drei schlichten Steinen und der Gedenktafel auf dem Friedhof Kaltenkirchen.