Die Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan oder Tschetschenien spülen Tausende Menschen nach Deutschland. In Norderstedt landen sie in den Notunterkünften der Stadt. Mit Problemen stehen sie oft völlig alleine da.
Norderstedt Einmal stand ein russischer Flüchtling vor dem Schreibtisch von Ellen Siebert, 29, deutete auf den stummen Mann neben sich und sagte: „Kollege! Russland! Hilfe!“. Die Sozialpädagogin und Leiterin der Migrationssozialberatung der Diakonie in Norderstedt spricht zwar Englisch, Französisch, Hebräisch und Arabisch. Bei Russisch aber muss sie passen. Dann spricht sie eben mit Händen und Füßen. Und hilft dem Kollegen.
Ellen Siebert weiß aus ihrer über dreijährigen Erfahrung in dem Job, dass es sonst kaum jemand tut. In den Flüchtlingsunterkünften der Stadt ist „Frag mal Ellen!“ die häufigste Antwort auf die Hilfegesuche von traumatisierten Menschen aus den Krisengebieten in aller Welt. „Flüchtlinge, die in Norderstedt ankommen, werden hier ziemlich allein gelassen.“ Was Siebert aus ihrer alltäglichen Praxis erzählt, ist alarmierend. Denn von einer Willkommenskultur für Flüchtlinge, wie sie Innenminister Andreas Breitner für Schleswig-Holstein fordert, scheint Norderstedt weit entfernt zu sein.
Flüchtlinge landen in Notunterkünften und bleiben sich selbst überlassen
Breitner will Integrations- und Flüchtlingspolitik zusammen denken und appelliert an die Gesellschaft, andere Kulturen anzuerkennen und die Vielfalt wertzuschätzen. Schleswig-Holstein sei ein Einwanderungsland. „Wir wollen allen Menschen in Schleswig-Holstein ein Zuhause und eine Zukunft bieten“, sagte Breitner bei einer Fachtagung zum Thema im September 2012. „Von der Verwaltung über Unternehmen bis zu jedem Einzelnen müssen wir zeigen, dass uns die Vielfalt, um die wir werben, auch willkommen ist“, so der Minister. Praktisch sieht das in Norderstedt dann so aus. „Wer aus Syrien, aus Tschetschenien oder dem Irak in Schleswig-Holstein ankommt, der landet zunächst in der Zentralen Aufnahmestelle in Neumünster“, sagt Siebert. Von dort aus wird auf die Kreise verteilt. „Die haben kaum Kapazitäten und telefonieren die Städte ab. Im Zweifel heißt es dann, ihr müsst die jetzt aufnehmen“, sagt Siebert. Wer Norderstedt als Ziel genannt bekommt, wird in die AKN gesetzt. Ein Bringdienst holt die Menschen am Bahnhof ab und fährt sie in die Notunterkünfte an der Lawaetzstraße oder am Buchenweg.
„Die Unterkünfte sind teilweise noch nicht mal geputzt, es gibt Tisch und Stühle, Betten und Wäsche, aber in der Küche kein Geschirr, keinen Topf, keinen Löffel“, sagt Ellen Siebert. Mit dem Hinweis, sich auf dem Rathaus zu melden, werden die Flüchtlinge sich selbst überlassen. „Die haben zum Teil Jahre der Flucht hinter sich, sind traumatisiert, psychisch und körperlich erschöpft und nun noch dazu orientierungslos. Sie wissen nicht, wo das Rathaus ist, wo sie einkaufen können, ganz zu schweigen von Dolmetschern, die für sie übersetzen“, sagt Siebert.
Syrische Familien nehmen traumatisierte Verwandte bei sich auf
Der Fachdienst Ausländer- und Asylangelegenheiten des Kreises kanalisiert den derzeit anschwellenden Flüchtlingsstrom. Er rechnet in diesem Jahr mit 280 Flüchtlingen, die in den Unterkünften in Schackendorf und in Norderstedt unterkommen müssen. Die Raum-Situation ist mehr als angespannt, Hamburg errichtet bereits Container-Lager. In den städtischen Notunterkünften am Buchenweg und an der Lawaetzstraße landen meistens Menschen aus den Kaukasusrepubliken oder aus dem Irak. „Derzeit haben wir 150 Asylbewerber. Und weitere 44 werden wir noch unterbringen müssen. Wir haben noch Kapazitäten. Aber es wird knapp“, sagt die Sozialdezernentin der Stadt, Anette Reinders. Über die Kritik von Ellen Siebert zeigt sie sich enttäuscht: „Wir stimmen uns laufend mit den Beratungsstellen in der Stadt ab, diskutieren gerade den Neubau von Unterkünften und wie wir mehr Beratung direkt vor Ort anbieten können.“
Doch viele Flüchtlinge landen gar nicht in den städtischen Unterkünften. Ellen Siebert weiß von fünf syrischen Familien, die in Norderstedt gestrandet sind. „Die leben bei Verwandten, oft zu dritt in einem Zimmer.“ In dieser beengten Lebenssituation bricht auf die Menschen all das ein, was sie in ihrer Heimat oder auf der Flucht erlebt haben. „Schlafstörungen sind die Regel, die Kinder sind ängstlich und schreckhaft, die Familien haben Angst vor Sirenen, aber auch vor alltäglichen Gerüchen oder Geräuschen, die sie mit fürchterlichen Erlebnissen verbinden.“ Ohne professionelle Hilfe könne man das Erlebte nicht mal so eben in seine Biografie integrieren, sagt Siebert. Dazu kommt die Sorge um die Angehörigen. Allein die fünf syrischen Familien in Norderstedt vermissen in den Wirren des syrischen Konfliktes 27 erwachsene Verwandte und zehn Kinder.
Ellen Siebert versucht, die Flüchtlinge zunächst zu stabilisieren, ihnen bei den ersten Schritten in Norderstedt zu helfen, bei Behördengängen, im Asylverfahren oder bei der Suche Kita und Schule für die Kinder. „Da gibt es eine tolle Zusammenarbeit mit dem Deutsch-als-Zweitsprache-Zentrum“, sagt Siebert. Außerdem gebe es in Norderstedt „viele engagierte Privatleute“, etwa im Verein Neue Nachbarn von der Norderstedter Flüchtlingshilfe. Ehrenamtliche unterstützen Siebert und die Migrationssozialberatung, kümmern sich um neue Flüchtlinge, organisieren Feste für die Familien oder bieten Migrantinnen in der Gruppe Mondfrauen die Möglichkeit zum Austausch.
Mit ihren 30 Stunden Beratungsarbeit die Woche stößt Ellen Siebert an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Am Ende jeder Woche ist mehr Beratungsbedarf übrig als bezahlte Zeit zur Bewältigung. Die Verzweiflung der Flüchtlinge und ihre schlimmen Geschichten nimmt sie mit nach Hause. „Manchmal wache ich morgens auf und denke sofort an einen Fall und was ich da noch mal versuchen muss“, sagt Siebert. Übereifer sei schlecht in ihrem Job. Der Eigenschutz komme bei ihr immer zuerst.
Spenden für die Migrationssozialberatung kann man mit dem Stichwort „Spende 50000-58120“ auf das Konto 31243400 bei der EDG-Kiel (BLZ 21060237).