Das Verfassungsgericht entscheidet darüber, ob die schwarz-gelbe Regierung in Kiel ihre umstrittene Mehrheit behält oder verliert.
Schleswig. Entschieden ist noch nichts, aber Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) muss um seine schwarz-gelbe Mehrheit ernsthaft bangen. Das Landesverfassungsgericht in Schleswig ließ gestern durchblicken, dass es im Landtagswahlrecht Ungereimtheiten und Mängel gibt. Ob CDU und FDP deshalb ihre Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag verlieren, will das Gericht erst nach den Sommerferien bekannt geben. Urteilsverkündung ist am 30. August.
Gerichtspräsident Bernhard Flor heizte die Spekulationen kräftig an. "Bei Feststellung eines oder mehrerer Verfassungsverstöße wäre das Entscheidungsspektrum breit", orakelte er. Klar ist, dass die Verfassungsrichter im Ernstfall zwischen drei Varianten wählen können, die Schwarz-Gelb unterschiedlich hart treffen.
Bei Variante eins wird der Landtag lediglich aufgefordert, die Verstöße bis zur nächsten Landtagswahl 2014 zu beheben. CDU und FDP könnten vorerst weiterregieren. Bei Variante zwei würde das Gericht den Landtag von 95 auf 101 Sitze vergrößern. CDU und FDP bekämen dann 50 Mandate, das Linkslager (SPD, Grüne, Linke, SSW) 51 und damit die Mehrheit.
Juristisch möglich, aber unwahrscheinlich ist Variante drei. Das Verfassungsgericht könnte wie einst in Hamburg die Wahl für ungültig erklären und die Bürger erneut an die Urnen rufen.
In der Verhandlung, die sich über mehr als fünf Stunden hinzog, meldete Gerichtspräsident Flor mehrfach Zweifel an, insbesondere an der Sitzverteilung im Landtag. Darum geht es: Bei der Wahl im Herbst 2009 waren elf Überhangmandate der CDU nur teils durch Zusatzsitze für die anderen Parteien ausgeglichen worden. Übrig blieben drei "ungedeckte" Unions-Mandate. Durch sie hat die CDU zusammen mit der FDP eine Mehrheit im Landtag, obwohl SPD, Grüne, Linke und SSW bei der Wahl mehr Stimmen sammelten.
"Diese Kapriole des Wahlrechts stiftet Unfrieden in Schleswig-Holstein", bemängelte der Anwalt von Grünen und SSW, Wilhelm Mecklenburg. Dafür, dass die Überhangmandate nur teils ausgeglichen würden, gebe es keine verfassungsrechtlichen Gründe. In dieselbe Kerbe schlug der Jura-Professor Hans-Peter Schneider. "Es muss ein Vollausgleich erfolgen", sagte der Anwalt der Linkspartei, der früher in Niedersachsen Verfassungsrichter war.
Die Gegenposition vertrat allein der Prozessvertreter des Landtags, Wolfgang Ever. Der Jurist verwies auf die Landesverfassung, die kein reines Verhältniswahlrecht vorsehe und damit auch keinen Vollausgleich von Überhangmandaten erzwinge. "Dieses Verfahren ist der ausdrückliche Wille des Landtags als Gesetzgeber", betonte Ewer. Er warnte das Gericht davor, die Verfassung neu zu interpretieren und die Zusammensetzung des Landtags zu verändern. "Die gewählte Volksvertretung genießt Bestandsschutz."
Gerichtspräsident Flor schüttelte den Kopf, beschränkte sich aber auf einige kritische Anmerkungen. Demnach bestimmen die Schleswig-Holsteiner den Landtag in einer "personalisierten Verhältniswahl", für die das Prinzip der "Erfolgswertgleichheit der Stimmen" gilt. Im Klartext: Überhangmandate müssen ausgeglichen werden, damit der Landtag möglichst genau dem Wählerwillen entspricht. Bedenken meldete Flor auch in anderen Wahlfragen an, so etwa bei der Zahl und dem Zuschnitt der Wahlkreise.
Das Urteil fällt allerdings nicht Flor allein, sondern das siebenköpfige Verfassungsgericht. Im schwarz-gelben Lager begann nach der Verhandlung das große Zittern. "Die Entscheidung des Gerichts ist nicht sicher vorhersehbar", sagte der CDU-Landtagsabgeordnete Werner Kalinka. Sein FDP-Kollege Gerrit Koch war zuversichtlicher. "Ich denke, Schwarz-Gelb wackelt nicht."
Die Opposition jubelte verhalten. "Wir sind voller Zuversicht", sagte die Landesvorsitzende der Grünen, Eka von Kalben. Es gebe die "begründete Hoffnung", dass es künftig und vielleicht sogar rückwirkend einen Vollausgleich von Überhangmandaten geben werde. Bei einem Sieg vor Gericht wollen die Grünen mit allen Fraktionen über eine Regierungsbildung reden. Rechnerisch möglich wäre eine Linksregierung aus SPD, Grünen, Linken und SSW. Die Linkspartei ist im Landeshaus allerdings weitgehend isoliert. Wahrscheinlicher wäre ein Bündnis von Grünen mit CDU und FDP oder CDU und SSW.
Gesprächsbereit ist die CDU, weil es ein weiteres Wahlproblem gibt. Scheidet ein Unions-Abgeordneter aus dem Landtag aus, könnte sein bisher ungedecktes Überhangmandat wegfallen. Und damit die schwarz-gelbe Mehrheit.