Hamburg/Lüneburg. Nach der Aufklärung der Verbrechen prüft die Polizei, ob der Täter mehr Menschen tötete. Und sie glaubt, dass sein Helfer noch lebt.

Es war ein Verbrechen, das viele Menschen zutiefst erschütterte. 1989 wurden im niedersächsischen Staatsforst Göhrde nahe Lüneburg, mitten in der Natur, zwei Paare ermordet, an zwei verschiedenen Tagen. Der Schock über die Göhrde-Morde saß so tief, dass Ausflügler den „Totenwald“ über Jahre mieden.

Jetzt, 28 Jahre nach der Tat, ist die Erleichterung groß. Die Mordserie ist aufgeklärt. Mit neuen Analysetechniken konnte die Polizei den Friedhofsgärtner Kurt-Werner W., der sich bereits 1993 das Leben nahm, als Täter ermitteln. Sicher scheint zudem, dass W. auch Mörder der Unternehmergattin Birgit M. ist, deren Leiche im vergangenen September gefunden wurde. Der Verdacht der Ermittler: Serientäter W. könnte noch für weitere Morde verantwortlich sein – nicht nur im Raum Lüneburg. Und: Sie gehen davon aus, dass er einen Komplizen hatte. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen:


Wer war Kurt-Werner W.?

W. wurde 1949 geboren. Er wuchs in Adendorf bei Lüneburg auf. Schon früh fiel er wegen sadistischer Neigungen auf. Im Alter von 14 Jahren wurde er in ein Heim eingewiesen. 1964 drang er mit einem Messer bewaffnet in ein Haus ein, um Geld zu stehlen. Als die schlafende Bewohnerin aufwachte, würgte er sie. Mit 16 belästigte er eine Radfahrerin. 1970 vergewaltigte er eine 17-jährige Anhalterin. Dafür saß W. bis 1974 in Haft. Danach lebte er im Raum Karlsruhe, bevor er in den 1980er -Jahren in das vom Vater geerbte Haus in Adendorf zurückzieht. Dort lebte er mit seiner Frau.

Polizeibeamte untersuchen im Juli 1989  in der Göhrde bei Oldendorf (Niedersachsen) ein Fahrzeug
Polizeibeamte untersuchen im Juli 1989 in der Göhrde bei Oldendorf (Niedersachsen) ein Fahrzeug © dpa | Michael Behns


Welche Taten werden ihm angelastet?

Für die Polizei steht fest, dass W. die 1989 verschwundene Birgit M. tötete. Ihre sterblichen Überreste wurden vor rund drei Monaten in der Garage an seinem Haus vergraben gefunden. Entdeckt wurden sie nicht von der Polizei, sondern vom früheren Hamburger LKA-Chef Wolfgang Sielaff, dem Bruder von Birgit M., der mit früheren Weggefährten auf eigene Faust ermittelt hatte. Gestern sagte Sielaff dem Sender NDR 90,3: „Es ist auf jeden Fall eine Genugtuung. Es war meine Auffassung, dass der jetzt überführte Mann als Göhrde-Mörder in Betracht kommen müsste. Das ist ja jetzt bewiesen worden.“

Ermordet: Die 46-jährige Ingrid W. aus Uelzen und ihr 43-jähriger Freund, Bernd-Michael K. aus Hannover
Ermordet: Die 46-jährige Ingrid W. aus Uelzen und ihr 43-jähriger Freund, Bernd-Michael K. aus Hannover © dpa | -


Warum ist Kurt-Werner W. nicht früher überführt worden?

Polizei und Staatsanwaltschaft haben offenbar geschlampt. Nach dem Verschwinden von Birgit M. war der Fall als „Vermisstensache“ eingestuft worden. Später hatten sich Ermittler in die These verbissen, ihr Mann, ein Unternehmer, von dem sie sich getrennt hatte, habe seine Frau aus finanziellen Motiven getötet. Jahre später, 1993, fiel der Verdacht auf W., weil er Kontakt zu Birgit M. hatte. Bei Durchsuchungen wurden viele Hinweise gefunden. Die vergrabene Leiche wurde nicht entdeckt.

Das Polizeifoto zeigt die 45-jährige Ursula R. und ihren 52-jährigen Ehemann, die in einem Waldgebiet bei Göhrde (Niedersachsen) im Juni 1989 ermordet wurden
Das Polizeifoto zeigt die 45-jährige Ursula R. und ihren 52-jährigen Ehemann, die in einem Waldgebiet bei Göhrde (Niedersachsen) im Juni 1989 ermordet wurden © dpa | -


Welche Hinweise waren das?

In W.s Haus entdeckte die Polizei ein „geheimes Zimmer“, in das nicht einmal seine Frau Zutritt hatte. Dort waren neben Kleinkalibergewehren auch Fesselutensilien und Beruhigungsmittel versteckt. Es führte auch eine Luke zur Garage, in der die Leiche von Birgit M. entdeckt wurde. 1993 entdeckte die Polizei seinen im Garten vergrabenen Ford, ein fast neuer Wagen. Am Fahrzeug schlugen Leichenspürhunde an.


Warum blieb die Leiche unentdeckt?

Offenbar wurde das Grundstück nicht gründlich durchsucht. 1994 wurden die Ermittlungen eingestellt, weil W. tot war und der Grundsatz gilt: „Gegen Tote kann man nicht ermitteln“.

Wie wurde ein Zusammenhang zu den Göhrde-Morden hergestellt?

In dem Fahrzeug eines ermordeten Paares sind DNA-Spuren, zwei Haare, entdeckt worden, die W. jetzt zugeordnet werden konnten.


Warum passierte das erst jetzt?

Das Instrument des genetischen Fingerabdrucks wurde erst 1985 entwickelt. Es dauerte noch Jahre, bis die DNA-Analyse bei der Polizei zum Standard der Spurensicherung wurde. In den frühen Jahren brauchte man noch „einen Fingerhut voll Blut“, um die DNA analysieren zu können. Heute reichen kleinste Partikel. Deshalb werden alte Mordfälle, bei denen es noch Beweisstücke gibt, an denen DNA haften könnte, kriminaltechnisch nachbearbeitet.


Welche Taten verbergen sich hinter den Göhrde-Morden?

Es handelt sich um zwei Doppelmorde, die 1989 kurz hintereinander in dem Waldgebiet Göhrde verübt wurden. Am 21. Mai 1989 wurden ein 51-Jähriger und seine Frau (45) aus Lohbrügge ermordet und in einer Senke versteckt. Am 12. Juli 1989, am Tag der Entdeckung der beiden Leichen, wurde unweit der Stelle wieder ein Pärchen getötet. Der Mann (43) wurde stranguliert, und ihm wurde mit einer Kleinkaliberwaffe in den Kopf geschossen. Die Frau (46) wurde erschlagen und verstümmelt.


Könnten noch mehr Morde auf das Konto von W. gehen?

Ja. Die Polizei hat eine sogenannte Clearing-Stelle eingerichtet. Dort werden ungeklärte Morde auf Zusammenhänge zu W.s Taten überprüft, allein im Raum Lüneburg drei Fälle. 1965 wurde dort eine Sechsjährige getötet. 1967 war es eine 37-Jährige, die bei Maschen erschlagen wurde. 1967 wurde eine 67-Jährige in einem Lüneburger Park getötet. Nie wurde ein Täter ermittelt.


Hatte W. einen Komplizen?

Die Polizei geht davon aus. W. war mit seinem Auto zum zweiten Mord in die Göhrde gefahren, hatte dann aber den Tatort mit dem Auto seiner Opfer verlassen. Sein eigenes Auto überließ er offenbar seinem Komplizen. Die Polizei glaubt: Dieser Helfer lebt noch.