Geesthacht. Ein Portal nur für junge Leute? Was Kurt Z. erlebte, als er auf der Internet-Plattform Tiktok mit Gesprächen live auf Sendung ging.

Er wollte sich doch nur einen kleinen Nebenverdienst auf Tiktok aufbauen. Doch statt Geld zu verdienen, hagelte es zunehmend Beleidigungen für den Geesthachter der Ü-60-Generation. Als Krönung gab es jüngst sogar eine Todesdrohung. Nun hat sich Kurt Z. (Name von der Redaktion geändert) erstmal Sendepause auf der vor allem von jungen Leuten genutzten sozialen Plattform verordnet. „Tiktok ist eine gesetzlose Zone“, findet er ziemlich ernüchtert.

Das zum chinesischen ByteDance-Konzern gehörende Portal ist eine der erfolgreichsten Apps der Welt. Die Möglichkeit, kurze Videos einzustellen oder auch ganze Livesendungen weltweit zu bestreiten, begeistert vor allem Nutzer zwischen 13 und 34 Jahren. Sie machen 92,4 Prozent bei Tiktok aus, 5,9 Prozent sind zwischen 35 und 44 Jahre alt und nur 1,67 Prozent sind zwischen 45 und 54 Jahre alt. Die Generation von Kurt Z. taucht in dieser Statistik gar nicht auf. Gilt er hier als Störenfried?

Beleidigungen und Morddrohung für Geesthachter Tiktok-Senior

Vor drei Monaten begann Kurt Z. mit seinen Live-Sendungen. „Es ging sehr schnell los mit den Beleidigungen“, erzählt er, „,was willst Du Opa denn hier?’ hieß es“. Ein Vorfall machte ihn besonders sprachlos. Ein junger Mann fluchte während einer Sendung urplötzlich „Du Hurensohn“ und loggte sich dann aus. „Völlig unvermittelt, ohne, dass etwas vorgefallen war“, erzählt Kurt Z. immer noch fassungslos.

„Die meisten Beleidigungen aber zielen auf deine Person ab. Du bist hässlich oder zu dick“, berichtet Kurt Z.. Am Anfang keilte er noch zurück: „Wir können uns gern mal treffen, ich bin intellektuell besser als du“, habe der ehemalige Abiturient einem der „Hater“ mit auf den Weg gegeben, sagt Kurt Z. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Viel schlimmer.

In Deutschland hat Tiktok monatlich mehr als 19 Millionen Nutzer, weltweit sind es über eine Milliarde. Diese Masse bedeutet bares Geld für das von Datenschützern sehr kritisch beäugte Unternehmen. Die Tiktok-App ist umsonst zu haben, das Geld wird vor allem mit Werbung verdient. 51 Milliarden US-Dollar an Einnahmen sollen es im Jahr 2021 gewesen sein.

Auch Nutzer mit vielen Anhängern können auf Tiktok Geld verdienen

Aber auch die Nutzer können finanziell vom Kuchen profitieren. Wenn sie es richtig anstellen. Wie viel Geld es von Tiktok gibt, hängt von der Anzahl der Follower ab. Mindestbedingungen für die Bewerbung um den Creator Fund: mehr als 10.000 Follower und mindestens 100.000 Views in den zurückliegenden 30 Tagen. Ausgeschüttet werden pro 1000 Videoaufrufe etwa 0,9 US-Dollar.

Einige der Tiktok-Berühmtheiten mit riesiger Anhängerschar und internationaler Reichweite sollen zu Millionenbeträgen gekommen sein. Hinzu kommen Partnerschaften mit Firmen, die an Menschen mit so einer Reichweiten-Präsenz natürlich auch interessiert sind.

Virtuelle Geschenke bringen Einnahmen für die Influencer

Eine weitere Möglichkeit des Verdienens – auch für Tiktok – besteht darin, von Nutzern während der Live-Sendung virtuelle Geschenke zu bekommen, wenn ihnen der Auftritt gefällt. Das sind kleine Grafiken wie zum Beispiel Rosen oder auch Kronen, die für unterschiedliche Münzwerte stehen.

Diese Geschenke werden von den Nutzern bei Tiktok gekauft. 36 Münzwerte kosten 62 Cent. Der Beschenkte kann die Grafiken später in Euros zurück verwandeln, 80 Prozent der Einnahmen gehen an ihn. Der restliche Teil fließt wieder an Tiktok.

Gespräche über Politik und Gendern arten immer aus

Diese finanziellen Aussichten lockten Kurt Z. zur Plattform. „Ich hatte vor, damit etwas Geld zu verdienen. Ich habe mir vom Amt sogar einen Gewerbeschein geholt für ein Kleinstgewerbe, eingetragen ist offiziell der Begriff Influencer“, erzählt Kurt Z.

„Ich wollte auf vernünftige Art etwas machen“, sagt er. Kurt Z. ist auch auf YouTube mit kurzen Filmen zur Gesundheit aktiv, hat dort immerhin 133 Abonnenten. Bei Tiktok schwebte ihm ein großes Live-Forum vor für Gespräche mit Themen über Gott und die Welt. „Politik und Gendern wollte ich aber raushalten, das gibt immer nur Streit, das artet immer aus“, hat er bei anderen festgestellt.

1000 Follower sind für einen Live-Auftritt nötig

Für die Eintrittskarte, um bei Tiktok in den Live-Modus gehen zu dürfen, benötigte er zunächst einmal 1000 Follower. Die lassen sich auch kaufen, aber das wollte Kurt Z. nicht, er wollte „echte“ Begleiter seines Accounts.

Diese Anzahl zusammenzubekommen, dauerte gut einen Monat. In den sozialen Medien läuft das so: Man sucht sich geeignete andere Nutzer aus, denen man folgt. Ehrensache, dass diese dann anschließend meist auch dem Erstinteressenten folgen. In der sozialen Netzwelt ist jeder daran interessiert, stets die eigene Gefolgschaft zu mehren.

Gesendet wurde aus dem Wohnzimmersessel

Eine große Follower-Schar bedeutet aber nicht, dass dann alle auch zur Stelle sind, wenn es live auf Sendung geht. „Meine Höchstzahl waren um die 100 Teilnehmer“, sagt Kurt Z. Gesendet wurde aus dem Wohnzimmer. „Alles läuft über das Handy, über den PC machst du nichts“, erklärt er

Ein geeignetes Smartphone hat er, 100 Euro wurden in ein spezielles Handy-Stativ mit kreisrunder Lichtröhre drumherum investiert für die Ausleuchtung. Es wurde vor der Zimmerwand aufgestellt. Kurt Z. nahm auf dem Sessel davor Platz, fertig war die Tiktok-Sendung.

Manche Gesprächsrunde dauerte bis in den früher Morgen

Er ging zu unregelmäßigen Zeiten ins Netz, manchmal mehrmals am Tag, insgesamt über Hundert Mal in den vergangenen drei Monaten. „Wie ich gerade Lust hatte“, sagt er. Seine Follower erkannten, wann er aktiv ist.

Sie konnten dann an der Runde teilnehmen, manche zeigten sich auf dem Bildschirm, andere chatteten nur mit. Manchmal dauerte es bis zum frühen Morgen um sechs Uhr. „Es brachte ja auch Spaß, mit den Leuten zu diskutieren, wenn das Thema gut ist“, sagt Kurt Z.

Sobald es Radau gab, stiegen die Zuschauerzahlen

Aber so war es nicht immer. Vor allem blieb die Zahl der Teilnehmer hinter den Erwartungen zurück, „Die guten Sachen liefen nicht, aber sobald Radau war mit Beleidigungen, gingen die Zuschauerzahlen sofort hoch“, hatte er festgesellt.

Irgendwann begann dann der richtige Ärger. Kurt Z. macht ihn am Beitritt einer bestimmten Person fest, die aggressive Stimmung verbreitete. Und diejenigen deswegen fernblieben, die er eigentlich halten wollte. „Ich brauche ein Publikum, das Geld bringt. Und gerade dieses fühlte sich von der Person abgestoßen“, sagt er. Kurt Z. war in einer Zwickmühle. Er müsse nicht jeden reinlassen in seine Sendung, „aber zu viele zu blockieren, ist nicht auch gut“, sagt er.

1000 Leute vor der Haustür nach Hass-Aufruf

„Ich wollte dann, dass diese Person nicht mehr bei mir ist“, sagt er. Von anderen, mit denen er freundschaftlich verkehrte, bekam er später den Mitschnitt eines Videos zugespielt. „Die Person sagte darin, sie würde jemandem am liebsten den Hals durchschneiden“, sagt er. Kurt Z. ist sich sicher: „Da konnte nur ich mit gemeint sein“.

Er nimmt solche Aussagen ernst: „Ich habe von einem Tiktoker gehört, der auch im Netz gehatet wurde, und dann sollen bei dem wirklich 1000 Leute vor der Haustür gestanden haben. Viele denken, dass die Vorgänge im Netz mit der Realität nichts zu tun haben – aber das ist die Realität“, sagt Kurt Z.

Ein Stundenlohn von unter zehn Cent

Nun zieht er erstmal die Reißleine. „Wenn es sich finanziell wenigstens gelohnt hätte“, seufzt er. Schon etwa 300 Euro hätte er als Nebenverdienst „nicht schlecht gefunden“. Das Fazit nach drei Monaten ist aber ernüchternd. „Der Verdienst lag einmal bei 51 und einmal bei 59 Euro, das sind unter zehn Cent als Stundenlohn“, schätzt er. Die investierte Zeit hat Kurt Z. nicht notiert, er schätzt sie auf 300 Stunden. „Oder eher 600“.

Ob er auf der Plattform weitermacht, ist noch nicht klar. „Mein Leben besteht nicht aus Tiktok“, sagt Kurt Z.