Geesthacht. Viele der Tiere sterben im Frühjahr bei Unfällen auf der Straße. Warum gerade im April und Mai viel Wildwechsel herrscht.

Das Wild lebt gefährlich. In Feld und Wald lauern Jäger und Wolf, und auf der Straße droht der Verkehrstod. Nicht im Herbst zur Brunftzeit ist dabei die gefährlichste Jahreszeit, sondern jetzt: „Im April passieren die meisten Wildunfälle, dicht gefolgt vom Mai“, weiß der Deutsche Jagdverband. Diese Bewertung legt die Auswertung von 22.000 Fällen des Tierfund-Katasters nahe.

Am häufigsten trifft es Rehe – sie machen 49 Prozent aller gemeldeten Wildunfälle aus. Und im April sind es verstärkt die Rehböcke, die zu den Opfern zählen. Besonders gefährlich hat sich in beiden Monaten der Zeitraum von 6 bis 7 Uhr erwiesen, im Mai zusätzlich zwischen 21 und 22 Uhr. Problematisch: Die Zeitumstellungen im Frühjahr und Herbst sorgen für eine Verlängerung der kritischen Phasen, weil sich die Tiere bevorzugt in der Dämmerung bewegen.

Polizei registriert 1360 Wildunfälle im Kreis Herzogtum Lauenburg

Die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg weiß von rund 300.000 Wildtieren, die Jahr für Jahr auf deutschen Straßen sterben, darunter fast 200.000 Rehe. In Schleswig-Holstein hat die Polizei 17.123 Wildunfälle im Jahr 2021 dokumentiert. Im Vergleich zum Vorjahr 2020 stieg die Zahl um 2,8 Prozent.

Im Kreis Herzogtum Lauenburg seien im vergangenen Jahr 1126 Wildunfälle durch die Polizei aufgenommen und weitere 234 Wildunfälle gemeldet worden, die nicht im Vorgangssystem erfasst worden waren, teilt die Polizeidirektion Ratzeburg auf Nachfrage mit. Im Kreis Stormarn seien es 861 aufgenommene Wildunfälle gewesen bei weiteren gemeldeten 255 Wildunfällen.

Einige Fahrer nutzen die Gelegenheit und laden sich einen „Braten“ in den Kofferraum

Viele Unfallfahrer wenden sich wegen einer persönlichen Bekanntschaft auch direkt an die Jägerschaft, heißt es von der Polizei. Und andere flüchten, ohne sich um die Opfer zu kümmern. Soll heißen: Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Einige nutzen die Gelegenheit, um einen „Braten“ im Kofferraum mitzunehmen – was Wilderei ist –, andere entfernen sich, weil sie vielleicht nicht fahrtüchtig waren.

Das kann als Verstoß gegen das Tierschutzgesetz gewertet werden, zum Beispiel wegen Tierquälerei, wenn ein verletztes Tier zurückgelassen wurde. Beste Lösung: Die Polizei unter Notruf 110 anrufen, die Beamten wissen, wer von der Jägerschaft in dem Gebiet zuständig ist und kümmern sich um alles weitere. Und: Beim Fahrzeug bleiben, nicht selbst nach dem möglicherweise verletzten Wild suchen.

Grünhofs Revierförster Hannes Koopmann aus Schnakenbek hat zuletzt im Februar ein totes Reh auf der Bundesstraße 5 am Hohen Elbufer zwischen Geesthacht und Lauenburg geborgen. Auf der Strecke durch den Wald gebe es regelmäßig Verkehrsunfälle, berichtet der Förster. Als Unfallschwerpunkt bei Wildunfällen möchte er sie aber nicht bezeichnen. „Unfälle gibt es überall, wo viele Autos fahren“, sagt er.

Die einjährigen Kitze sind nun ohne Mutter unterwegs

Die hohen Unfallzahlen im April und Mai erklärt Hannes Koopmann mit der „Frühjahrsregheit“ der Tiere. Wenn die Temperaturen steigen, steige auch deren Hormonspiegel, und beim Rehwild werden nach der Bildung winterlicher Zweckgemeinschaften die Reviere neu vergeben. Ein entscheidender Punkt, der nun vielfach zu Unfällen führt: Die einjährigen Kitze werden jetzt von der Ricke vertrieben. „Von der Mutter verstoßen und ohne deren gewohnte Führung laufen die Jährlinge nun ein bisschen verwirrt durch die Lande, viele Gebiete seien neu und ungewohnt“, erklärt Hannes Koopmann. Inklusive dem Straßenverkehr.

Zahlreiche Methoden, die Beziehung von Wild und Straßenverkehr zu entschärfen, haben sich nicht bewährt. Weil die Unfälle auch zu hohen Versicherungsschäden führen – der Schadensaufwand in der Fahrzeugversicherung lag 2021 bei 940 Millionen Euro – haben die Versicherer ein starkes Interesse an der Forschung zur Gefahrenabwehr. Als Gegenmaßnahmen neben den klassischen Wildwechselschildern gelten Duftbarrieren, optische und auch akustische Reflektoren, Rückschnitt der Hecken und Sträucher am Straßenrand. Trauriges Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes: Keine dieser Maßnahmen reduziert die Wildunfälle nachhaltig. „Die Reflektoren haben sich alle nicht bewährt – egal, ob gelbes oder blaues Licht“, bestätigt auch Hannes Koopmann. Vielversprechend dagegen sind Wildwarn-Apps wie „Wuidi“. Sie hält zwar nicht das Wild ab, auf der Straße zu stehen, warnt aber die Autofahrer aktuell vor örtlichem Wildwechsel.

Umweltschützer geben zunehmender Zersiedelung Mitschuld an Wildunfällen

„Am sichersten: Sich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten“, rät Hannes Koopmann. „Bei 70 km/h verbleibt in der Regel genug Zeit zum Reagieren“, sagt er. Der Anhalteweg – Reaktionszeit plus Bremsweg – bei 70 km/h beträgt immerhin noch 70 Meter, bei 100 km/h sind es bereits 130 Meter. Auch Hupen könne helfen und, sofern es aus Sicherheitsgründen vertretbar ist, das Fernlicht auszuschalten, wenn ein Wildtier im Lichtkegel auftaucht. Bei Fernlicht liefen die Tiere wie in einem Tunnel, seien nicht in der Lage, durch die Lichtwand nach links oder rechts in den rettenden Wald auszubrechen, erklärt der Förster.

Neben einer Zunahme der Rehpopulation – angenommen werden etwa 2,5 Millionen Tiere in Deutschland – sehen Umweltschützer als Mitschuld für die hohe Zahl an Wildunfällen die zunehmende Zersiedelung. In extremen Fällen, wenn etwa Autobahnen einen Revierwechsel unmöglich machen, kann das zu genetischer Inzucht führen. Gerhard Boll ist Umweltschützer (BUND) und als Grüner Vorsitzender des Ausschusses für Stadt- und Verkehrsplanung in Geesthacht. Einer also, der sich in beiden Dingen auskennt – Natur und Infrastruktur. „Die Inseln, auf denen die Wildtiere leben können, werden kleiner“, sagt er. Die Tiere müssen also öfter über die Straße wechseln. Und weil auch die Orte wachsen, wird ein regulierender Eingriff zum Beispiel bei den Rehen schwieriger. „In Siedlungsnähe ist schlecht jagen für die Jäger“, meint Gerhard Boll.

„Umgehungsstraße schneidet Geesthacht nach Norden für Wildtiere ab“

Besonders schlimm: Wenn Verbindungsflächen zugebaut werden. Ein solcher Fall sei zum Beispiel in Geesthacht das neue Gewerbegebiet an der Leibnizstraße, so Boll. „Das war von der Stadtplanung als sogenannter ,Grünfinger’ vorgesehen gewesen“, ärgert er sich. „Wir haben kaum noch große Flächen, die nicht durch Straßen zerschnitten werden. Wir setzen uns als BUND für die Vernetzung von Waldflächen ein. Wir brauchen Korridore in Schleswig-Holstein, nicht nur viele Inseln“, sagt er. Auch die geplante Umgehungsstraße im Norden um Geesthacht herum sei eine weitere Behinderung für das Wild. „Die Umgehungsstraße schneidet Geesthacht für Wildtiere nach Norden hin ab“, meint auch der Biologe Friedhelm Ringe (Nabu).

„Die Lebensräume von Tieren reduzieren sich fortlaufend“, hat auch Heike Kramer, die Vorsitzende des Geesthachter Nabu, ausgemacht. Das überregionale Straßennetz in Schleswig-Holstein sei mittlerweile gut 10.000 Kilometer lang, einen Rückbau zu fordern sei natürlich unrealistisch, sagt sie. Auch Heike Kramer wünscht sich mehr Verbindungen zwischen Lebensräumen mit Grünbrücken, Querungshilfen und einem Leitsystem für Wildtiere, um vielbefahrene Straßen zu überwinden.